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Politik

Merkel geht, Konflikte mit Russland bleiben

Vladimir Esipov | Frank Hofmann
20. August 2021

Angela Merkel bereist ein letztes Mal als Kanzlerin Russland und die Ukraine. Die zunehmend selbstbewusste Außen- und repressive Innenpolitik Russlands dürfte auch für die nächste Regierung eine Herausforderung werden.

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Angela Merkel und Vladimir Putin
Kreml-Chef Wladimir Putin und Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sommer 2018 in Schloss MesebergBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Metallrohre glänzen in der Sonne, im Kontrollraum proben Ingenieure die Abläufe: die Erdgasempfangsstation Lubmin 2, wenige Hundert Meter von der deutschen Ostseeküste entfernt, ist betriebsbereit. Es fehlt nur das Gas aus Russland. Hier, in dem malerischen Küstenort bei Greifswald, trifft die Gaspipeline Nord Stream 2 auf das deutsche Festland und das deutsche Gasnetz. Von hier soll das russische Erdgas weitergeleitet werden - vorbei an der Ukraine.

Rund drei Milliarden Euro hat allein der Bau der Landleitung von der Ostsee zur tschechischen Grenze gekostet; Nord Stream 2 gilt als eines der größten Infrastrukturprojekte Deutschlands. Diese Zahlen stoßen in Berlin allen sauer auf, die sich nicht nur für Gas und Geld, sondern auch für Menschenrechte, Demokratie und Pressefreiheit interessieren - denn es gibt wohl kein besseres Symbol für den Spagat der deutschen Außenpolitik zwischen Wirtschaftsinteressen auf der einen Seite und den Werten einer liberalen Demokratie auf der anderen. Mehrere deutsche Politiker forderten einen Baustopp, auch im Zuge des Giftanschlags auf den Kremlkritiker Alexej Nawalny.

Nord Stream 2 fast vollendet

Das umstrittene Erdgas-Projekt ist nur eines von vielen Themen, mit denen Angela Merkel zu ihrem vermutlich letzten politischen Besuch nach Russland und später auch in die Ukraine reist. Experten sprechen angesichts etlicher Konflikte und Unstimmigkeiten von einem derzeitigen "Tiefpunkt" der deutsch-russischen Beziehungen.

Nord Stream 2: Milliardengeschäft trotz politischer Differenzen

Im September finden in Deutschland Bundestagswahlen statt. Entweder Olaf Scholz, Armin Laschet oder Annalena Baerbock werden Bundeskanzlerin Merkel im Amt ablösen. Im laufenden Bundestagswahlkampf zeigen sich erstaunliche Schnittmengen zwischen den beiden Oppositionsparteien Bündnis90/Die Grüne und der FPD, was das Thema Nord Stream 2 angeht. Der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff kritisiert scharf, die Bundesregierung unter Angela Merkel habe "die diplomatische Einbettung des Projekts bei unseren Partnern in Europa und Amerika jahrelang fahrlässig vernachlässigt". Vor allem Merkels jahrelang vorgebrachtes Argument, Nord Stream 2 sei allein ein wirtschaftliches Projekt, habe viel außenpolitischen Schaden verursacht.

Das sehen Bündnis90/Die Grünen und ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ähnlich. Die Partei hat mit der ehemaligen EU-Abgeordneten Rebecca Harms und der Osteuropapolitikerin im EU-Parlament Viola von Cramon zwei ausgewiesene Ukraine-Kennerinnen und Nord Stream 2-Gegnerinnen in ihren Reihen. Ihre harte Haltung gegenüber der Politik des Kremls bringt der grünen Partei viel Zuspruch bis weit in konservativ-bürgerliche Kreise in Deutschland ein.

Der Kanzlerkandidat der SPD, Olaf Scholz, forderte zuletzt im Interview mit der DW eine neue Ostpolitik der Europäischen Union. Er wolle die von Helmut Schmidt, dem ehemaligen sozialdemokratischen Bundeskanzler, mitgegründete KSZE, heute die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), aufwerten. Die EU als Ganzes solle gestärkt werden und nicht die Mitgliedstaaten einzeln: "Wir wollen nicht zurückkehren zu einer Politik des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, wo Mächte miteinander Politik machen - Russland, Deutschland, Frankreich, England. Sondern es geht um die Europäische Union und Russland, wenn man gemeinsame Sicherheit in Europa organisieren will.”

Deutsch-russische Beziehungen an einem "Tiefpunkt”

An einem absoluten Tiefpunkt der gesamten postsowjetischen Geschichte sieht das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau Janis Kluge, Osteuropa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Nach der Annexion der Krim haben die Vergiftung von Nawalny und die Unterstützung für das Regime in Belarus endgültig zu einem Bewusstseinswandel in der deutschen Politik geführt - die Mehrheit sieht Russland nun als strategischen Gegner, sagt Kluge.

Russland: Studenten wollen Pressefreiheit

Er sieht drei große Problemfelder im deutsch-russischen Verhältnis. Erstens: die zunehmend repressive russische Innenpolitik und die Verfolgung von unabhängigen Medien, Nichtregierungsorganisationen und der Opposition. Der Fall Nawalny ist da nur das prominenteste Beispiel. Zweitens, sagt Kluge, stünden die Operationen der russischen Geheimdienste in der EU unter Beobachtung. Dabei gehe es nicht nur um Anschläge, sondern auch um Hacker-Attacken auf politische Institutionen in Deutschland.

Und drittens: der Konflikt in der Ukraine sei schlechthin das Schlüsselthema im deutsch-russischen Verhältnis. "Solange es in dieser Krise keinen Fortschritt gibt, wird es nicht möglich sein, einen Versuch zu unternehmen, neues Vertrauen zu Russland herzustellen”, sagt Janis Kluge.

Russland als eine antiliberale Großmacht

Auch Ralf Fücks, Direktor des "Zentrums Liberale Moderne”, ein Think Tank, der seine Aktivitäten in Russland einstellen musste, sieht die Beziehungen zu Russland "an einem sehr kritischen Punkt”. Denn: "Putins Russland ist ein Gegenspieler zu den liberalen Demokratien des Westens geworden, sowohl im Hinblick auf die Außen- als auch auf die Sicherheitspolitik. Die systematische Unterminierung der westlichen Demokratien, Zusammenarbeit mit rechts- und linkspopulistischen Parteien, Verletzungen von Völkerrecht und internationalen Normen - sei es in Syrien oder der Ukraine - Russland ist auf Konfrontationskurs mit dem Westen. Und wir tun uns schwer, darauf eine Antwort zu finden”, sagt Fücks.

Wolodymyr Selenskyi und Angela Merkel
Merkel trifft auf ihrer vermutlichen letzten Ukraine-Reise auch Präsident SelenskyiBild: Stefanie Loos/AFP POOL/dpa/picture alliance

Die Hauptaufgabe der nächsten Regierung werde es sein, eine gemeinsame Russland-Politik der EU zu entwickeln. Für alle drei deutschen Kanzlerkandidaten sieht er die Aufgabe nicht in der Herstellung eines besseren Verhältnisses zu Wladimir Putin, sondern einer "Neujustierung des Verhältnisses zwischen Konflikt und Kooperation”, sagt Fücks. Es gehe darum, klarzumachen, wo die roten Linien für die EU und Deutschland sind, die wir gegen Übergriffe verteidigen werden, so Fücks.

Experte: Russland nutzt Handlungsunfähigkeit des Westens 

Von einem "Tiefpunkt” spricht auch Stefan Meister, Programmleiter Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik in Berlin (DGAP). Ein Teil der Lösung sieht er allerdings auch in Deutschland: "Wir sollten einfach realistischer sein, was in Russland möglich ist, wir sollten auch die Kräfte unterstützen, die ein anderes Russland wollen und zum Teil zunehmend ins Ausland gehen”.

Russland: Nawalnys Anhänger vor der Wahl

Aber mit Blick auf den Fall Nawalny sagt Stefan Meister: "Wir sollten uns nicht von Populisten und sozialen Medien treiben lassen, sondern klar einschätzen, dass im Moment dieser Wandel in Russland in der Form nicht stattfindet, aber dass er mittel- bis langfristig kommen wird”. Nawalny hält er für einen Populisten, dessen Rolle in der russischen Politik überschätzt werde.

Das Putin-Regime habe geschickt die Handlungsunfähigkeit des Westens der vergangenen Jahre ausgenutzt, um in Schlüsselkonflikten eine entscheidende Rolle zu spielen, sagt Stefan Meister. Ob Syrien, Libyen oder Südkaukasus - man komme an Russland nicht vorbei, so der Experte der DGAP. Er mahnt zu mehr Pragmatismus und weniger Hysterie; zur Suche nach Kompromissen da, wo sie möglich sind.

Russland wählt ebenfalls im September ein neues Parlament, eine Woche vor der Bundestagswahl. Der Unterschied zu Deutschland: der Gewinner dürfte bereits vor der Wahl feststehen, und an der russischen Politik wird sich wohl wenig ändern - sowohl im Inneren als auch nach Außen.