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Die Justiz in Griechenland und der Tod im Mittelmeer

22. November 2023

Menschenrechtsorganisationen werfen Griechenland vor, im Kampf gegen Migration europäisches und griechisches Recht zu brechen. Doch wer untersucht die Vorwürfe? Juristen bezweifeln die Unabhängigkeit der Justiz.

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Demonstranten halten ein schwarzes Banner mit einer Aufschrift in Englisch, Griechisch und Arabisch. In roten Großbuchstaben steht das englische Wort "Murderers" - Mörder auf dem Transparent.
Demonstration gegen die griechische Küstenwache nach dem Schiffsunglück von PylosBild: LOUIZA VRADI/REUTERS

Der Schock über das Schiffsunglück von Pylos im vergangenen Juni sitzt den Angehörigen der Opfer, den Flüchtlingshelfern und vielen Beobachtern noch immer in den Knochen. Hunderte von Asylsuchenden waren ums Leben gekommen, als das überladene Boot am 14.06.2023 vor der griechischen Küste gekentert und gesunken war.

In Folge des Unglücks steht die griechische Justiz vor einer Mammutaufgabe: Sie muss ermitteln, wer die Verantwortung für das Desaster trägt. Recherchen griechischer und internationaler Medien kamen nach der Befragung von Überlebenden und der Auswertung von Daten zu dem Ergebnis, dass die griechische Küstenwache das Sinken des überladenen Fischkutters verschuldet hatte. Sie habe versucht, das Boot in italienische Hoheitsgewässer zu schleppen und dabei das Boot zum Kentern gebracht. Ein Marinegericht hat die Ermittlungen aufgenommen. Doch die Beweislage ist schwierig. Das Boot der Küstenwache war zwar mit einer Kamera ausgestattet, und die Beamten an Bord sind eigentlich dazu verpflichtet, solche Einsätze zu filmen. In dieser Nacht auf dem Mittelmeer aber blieben die Kameras ausgeschaltet, und so steht vor Gericht Aussage gegen Aussage.

Menschenschmuggler oder Überlebende des Unglücks?

Es gibt aber noch weitere Beschuldigte in dem Fall: Nur wenige Tage nach der Katastrophe wurden dem Gericht im südgriechischen Kalamata neun ägyptische Männer vorgeführt. Sie hatten das Unglück überlebt und waren danach festgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie unter anderem wegen Menschenschmuggels. 

Kurz nach dem Schiffsunglück von Pylon wurden neun überlebende Ägypter festgenommen. Auf dem Bild sieht man ein Auto der griechischen Polizei mit Insassen, deren Gesichter nicht zu erkennen sind.
Kurz nach dem Schiffsunglück von Pylon wurden neun überlebende Ägypter festgenommenBild: Costas Baltas/AA/picture alliance

Der Rechtsanwalt Vasilis Papadopoulos ist Teil einer Initiative griechischer Juristen und Juristinnen, die sich mit dem Fall beschäftigen. Die Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, "die ganze Wahrheit über die Umstände des Schiffbruchs ans Licht zu bringen, um Gerechtigkeit zu ermöglichen", wie es  auf der Internetseite der Initiative heißt. Gegenüber der DW kritisiert Papadopoulos, dass es in Griechenland nur selten Ermittlungen wegen Gewalt an Migranten gebe. "In den wenigen Fällen, in denen die Justiz Untersuchungen eingeleitet hat, ging die Arbeit sehr langsam voran, oder sie wurde nach einer gewissen Zeit eingestellt und die Anschuldigungen wurden nicht bestätigt", so Papadopoulos.

Verstöße gegen geltendes Recht

In den vergangenen Jahren hatten zahlreiche Recherchen von Forschern, Menschenrechtlern und internationalen Medien, darunter die DW, strukturelle Rechtsbrüche von Seiten der griechischen Behörden gegen Migrierende dokumentiert. Dabei handelte es sich vor allem um illegale Deportationen, bei denen Asylsuchende ohne geregeltes Verfahren an der Grenze der Zutritt zur EU verwehrt wurde. Andere Berichte zeigen, dass Menschen, die sich bereits in Griechenland aufhielten, über den Grenzfluss Evros zurück in die Türkei geschickt wurden. Flüchtlinge, die mit Booten aus der Türkei auf griechische Inseln übersetzen, werden häufig von der griechischen Küstenwache auf Rettungsinseln ausgesetzt und in türkische Gewässer gezogen. Die griechische Regierung weist solche Anschuldigungen von sich. Man schütze die EU-Außengrenzen immer in Einklang mit geltendem Recht, so die offizielle Position Athens.

Ermittlungen in eine Richtung

Dafür geht die griechische Staatsanwaltschaft strikt gegen angebliche Menschenschmuggler vor. Viele Flüchtlingshelfer mussten und müssen sich vor griechischen Gerichten verantworten, darunter auch europäische Staatsbürger wie Nasos Karakitsos und Sean Binder. Sie waren zusammen mit der Syrerin Sarah Mardini 2018 auf Lesbos verhaftet und angeklagt worden, nachdem sie in Zusammenarbeit mit den griechischen Behörden schiffbrüchige oder seeuntaugliche Boote mit Flüchtenden gerettet hatten. Der Prozess läuft noch, die Mühlen der griechischen Justiz mahlen langsam.

Der Seenotretter Sean Binder (M.) spricht am 10.01.2023 vor dem Gericht in Mytilene mit der Europa-Abgeordneten Grace O´Sullivan (r.)
Der Seenotretter Sean Binder (M.) und die Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Grace O´Sullivan (r.) vor dem Gericht in Mytilene am 10.01.2023Bild: Manolis Lagoutaris/AFP

Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem politisch motivierten Prozess. Der Anwalt Dimitris Choulis aus Samos hat zahlreiche Flüchtende vor Gericht vertreten, denen die Staatsanwaltschaft ebenfalls vorwirft, Menschen geschmuggelt zu haben. In der Regel handle es sich bei ihnen um Asylsuchende, die lediglich das Boot gesteuert hätten. In Griechenland wiegt Menschenschmuggel schwerer als Vergewaltigung. 25 Jahre Haft drohen pro "geschmuggelter" Person.

Unschuldige im Gefängnis?

Choulis hält solche Anschuldigungen für absurd. Man statuiere ein Exempel an Unschuldigen. Gleichzeitig bezweifelt er, dass interne Untersuchungen gegen griechische Behörden wirklich unabhängig seien: "Diese Untersuchungen werden quasi von denselben Behörden durchgeführt, gegen die sich die Anschuldigungen richten." Es gebe in Griechenland keine Behörde, die wirklich unabhängig sei, wie zum Beispiel das FBI in den Vereinigten Staaten. Stattdessen bringe man Asylsuchende mit völlig überzogenen Anklagen vor Gericht, so Choulis.

Ein Schlauchboot der Nichtregierungsorganisation ERCI übergibt vor der Insel Lesbos aus Seenot Gerettete an ein Schiff der griechischen Küstenwache
Die Nichtregierungsorganisation ERCI hat Hunderte Rettungsmissionen vor Lesbos durchgeführt. ERCI-Aktivisten stehen in Griechenland vor GerichtBild: ERCI

"Ich hatte Fälle, bei denen Menschen in erster Instanz zu 142 Jahren Gefängnis verurteilt wurden", so der Anwalt im Gespräch mit der DW. "Über 1000 Menschen sitzen im Gefängnis, obwohl wir wissen, dass sie keine Menschenschmuggler sind. Dasselbe sehen wir jetzt bei dem Schiffbruch von Pylos. Neun Flüchtlinge sind als Menschenschmuggler angeklagt, doch das ist eindeutig politisch motiviert." Die Probleme der Justiz in Griechenland seien keine Einzelfälle, sondern strukturell bedingt. "Das Oberste Gericht wird von Politikern ernannt. Die Richter sind nicht unabhängig", beklagt Choulis. 

Leise Rückendeckung aus Brüssel

Die EU-Kommission weiß um die Probleme der griechischen Justiz. Sie empfiehlt Athen daher, die Ernennung der Obersten Richter nicht allein der Politik zu überlassen, sondern die Judikative mit einzubeziehen. Auch die lange Dauer der Prozesse wird kritisiert. Bei Anfragen nach Stellungnahmen zu den dokumentierten Rechtsbrüchen durch griechische Beamte aber verweist das zuständige EU-Kommissariat für Inneres auf die juristische Zuständigkeit Griechenlands.

Mögliche legale Schritte der EU, wie zum Beispiel eine öffentliche Ermahnung oder ein Vertragsverletzungsverfahren blieben bisher aus. Auf Anfrage der DW teilte man mit: "Mitgliedsstaaten müssen immer im Einklang mit internationalem und EU-Recht handeln, auch im Sinne der EU-Menschenrechtscharta." Man sei in Kontakt mit den griechischen Behörden. Außerdem räumt man ein: "Die Kommission überwacht ständig die Umsetzung von EU-Recht und stellt fest, dass in diesem Fall einige Konformitätsprobleme bestehen." Die Regierung in Athen beantwortete die schriftlichen Fragen der DW nicht. Die Pressestelle schickte lediglich die Statuten der umstrittenen Transparenzbehörde.

Porträt eines Mannes mit braunen Haaren und Bart
Florian Schmitz Reporter mit Schwerpunkt Griechenland