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PolitikNahost

Die jugendlichen Terroristen des 'Islamischen Staates'

Cathrin Schaer
16. September 2024

Die Zahl der wegen Terrorismus verhafteten Teenager in Europa steigt. Mit Erfolg rekrutiert die Terrorgruppe "Islamischer Staat" europäische Jugendliche für ihre Anschläge.

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Mehrere Jugendliche, jeder von ihnen ist mit seinem Handy berschäftigt
Social Media, der zentrale Kanal dschihadistischer PropagandaBild: Disobeyartphotograph/Dreamstime/IMAGO

Er attackierte das israelische Generalkonsulat in München und lieferte sich einen Schusswechsel mit deutschen Polizisten, in dessen Verlauf er erschossen wurde. Die anschließenden Ermittlungen ergaben, dass der 18-jährige Emrah I. offenbar von dschihadistischer Propaganda beeinflusst war, wofür es im Vorfeld jedoch kaum Indizien gegeben hatte. 

Der einzige Hinweis, der auf seinen Anschlagsversuch in München hätte deuten können, stammt aus dem Frühjahr 2023. Damals fand die österreichische Polizei nach Beschwerden über eine Schlägerei, an der der junge Mann beteiligt war, bei ihm ein Computerspiel, auf dem auch eine Al-Kaida-Flagge zu sehen war. Inzwischen geht die Polizei davon aus, dass Emrah I. sich in den vergangenen Monaten über das Internet radikalisiert hat.

Wachsende Zahl jugendlicher Terroristen

Emrah I. ist nicht allein. Zwischen März 2023 und März 2024 registrierten Forscher des Washingtoner Instituts für Nahostpolitik weltweit 470 einschlägige Rechtsfälle im Zusammenhang mit der Extremistengruppe "Islamischer Staat" (IS). An mindestens 30 Fällen waren Teenager oder Minderjährige beteiligt. Doch die tatsächliche Zahl könnte "deutlich höher" sein, heißt es in dem Report. Denn viele Länder gäben das Alter der Verhafteten nicht an.

Zwei Polizisten stehen hinter einem Absperrband, im Hintergrund ist eine Reihe von Polizeifahrzeugen und die Fassade des NS-Dokumentationszentrums zu sehen
Polizisten sichern das israelische Generalkonsulat und das NS-Dokumentationszentrum nach dem Attentatsversuch in MünchenBild: Peter Kneffel/AP/dpa/picture alliance

Eine andere Studie unter der Leitung des Terrorismus-Experten Peter Neumann vom King's College in London untersuchte 27 aktuelle Fälle mit IS-Bezug. Das Ergebnis: Zwei Drittel der in diesem Kontext Verhafteten waren Minderjährige.

Anfang September wurde ein 14-Jähriger in Uruguay festgenommen, nachdem er sich im Internet als "einsamer Wolf" bezeichnet hatte. Wenige Tage später verhafteten die Schweizer Behörden einen 11-Jährigen. Er hatte in den sozialen Medien extremistische Botschaften verbreitet.

Gezielte Rekrutierung westlicher Teenager?

Zwar wurde der IS bereits 2017 militärisch besiegt. Doch die Gruppe existiert weiterhin. Stark präsent ist sie in afrikanischen Ländern sowie in Afghanistan. Dort ist sie unter dem Namen "Islamischer Staat - Provinz Khorasan" bekannt (IS-PK oder IS-K).

Seit Januar dieses Jahres hat IS-PK seine Anhänger dazu aufgerufen, "einsame" Anschläge in Europa zu verüben und Großveranstaltungen wie die Olympischen Spiele, Konzerte und Fußballspiele anzugreifen.

Ein Fan von Taylor Swift vor einem Bild des Pop-Stars.
Im Visier jugendlicher Dschihadisten: die Besucher eines Wiener Konzerts von Taylor SwiftBild: Toby Melville/REUTERS

So durchsuchte die österreichische Polizei im Fall des möglichen Anschlags auf Besucher eines Taylor-Swift-Konzerts in Wien die digitalen Netzwerke des 19-jährigen österreichischen Hauptverdächtigen. Die deutsche Polizei nahm daraufhin einen 15-Jährigen in Brandenburg fest, der im Verdacht stand, den Österreicher zu unterstützen.

Experten gehen nicht davon aus, dass sich die Botschaften explizit an europäische Teenager richten. Eher hänge die wachsende Zahl jugendlicher Angreifer mit der Art und Weise zusammen, in der sie auf den sozialen Medien und Messaging-Plattformen Zugang zu IS-Inhalten erhielten.

Angriffe von Jugendlichen werden in der Regel von der IS-Gruppe "inspiriert" und nicht direkt von einer Person etwa aus Afghanistan befohlen. Das ist eine ganz andere Dynamik als noch im Jahr 2014, als der IS große Teile des Irak und Syriens eroberte. Damals standen die potenziellen Rekruten oft in direktem Kontakt mit einem Ansprechpartner im Nahen Osten, der sie ermutigte, ihre Heimat zu verlassen und ins "Kalifat" zu kommen.

"Diffuses Netzwerk"

Derzeit sei die Propaganda weniger zentralisiert, sagt Lucas Webber vom New Yorker Think Tank Soufan Center. "Eher könnte man von einem organischen Online-Gemeinschaftsapparat sprechen."

Es gebe immer noch einen zentralen Mediendienst und ein zentrales Kommando, das Attacken steuere, sagt Pieter Van Ostaeyen, ein Analyst, der unter anderem für das in New York, Berlin und London ansässige Counter Extremism Project arbeitet. "Aber inzwischen gibt es ein sehr vielfältiges Netzwerk, das die jungen Menschen rekrutiert."

"Es handelt sich eher um ein diffuses Netzwerk, in dem Kinder in ihren eigenen Online-Kreisen Einfluss nehmen wollen", bestätigt Moustafa Ayad vom Londoner Institute for Strategic Dialogue, das sich mit Extremismus aller Art beschäftigt. Die Ideologie spiele nach wie vor eine Rolle, so Ayad. Aber die "Tik-Tokifizierung" von Inhalten des IS in kurzen Videos erleichtere jungen Menschen den Zugang zu dieser Welt. Die Ästhetik der Videos transportiere zudem ein spezifisches Gefühl von 'Dschihad-Coolness'."

Warum sind gerade Teenager so empfänglich?

Die Grundbotschaft des IS ist seit jeher dieselbe: Die Welt verfolge Muslime. Doch schlössen sich die Jugendlichen dem IS an, wäre man gemeinsam stark. Entfremdete oder an den Rand gedrängte Jugendliche auf der Suche nach Gemeinschaft oder Orientierung fänden diese Art von Botschaft womöglich ansprechend, sagen Psychologen.

Rettungsmannschaften im Gazastreifen nach einem israelischen Angriff, September 2024
Missbraucht durch dschihadistische Propagandisten: der Krieg in GazaBild: Jehad Alshrafi/Anadolu/picture alliance

Auch politische Faktoren spielen bei der Propaganda eine Rolle. Experten zufolge nutzt die IS-Gruppe den Konflikt zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen als angeblichen Beweis, dass "der Rest der Welt Muslime hasst". Darum sollten ihre Anhänger Rache nehmen, heißt es dann in den Videos. "Kamerabilder der zivilen Todesopfer aus dem Gazastreifen sind für jedermann zugänglich. Sie verdeutlichen Tod und Zerstörung und machen auch auf Kinder Eindruck", sagt Ayad. "Dies führt dazu, dass Kinder sich entweder zurückziehen oder aggressiver werden."

Auch der Aufstieg der extremen Rechten in Deutschland sowie die aktuelle Debatte über Einwanderung und Islamfeindlichkeit dürften sich auf marginalisierte Jugendliche aus diesen Gemeinschaften auswirken. "Mehr Rechtsextremismus führt zu mehr dschihadistischem Verhalten. So einfach ist das", sagte Pieter Van Oestaeyen gegenüber der DW. "Beide Gruppen verstärken sich gegenseitig."

Wie groß ist also die Gefahr durch die so genannten "TikTok-Terroristen"? Es gebe viele Drohungen von Mitgliedern des Islamischen Staates, sagt Ayad. "Aber ich glaube nicht, dass wir auf dem gleichen Stand sind wie 2015 und 2016. Die Pläne dieser Kinder sind in der Regel nicht ernsthaft durchdacht. Doch sind sie erfolgreich, können sie massive Auswirkungen haben. Es braucht nur einen erfolgreichen Angriff."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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