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Deutschlands Präsident trifft Opfer politischer Gewalt

23. September 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht mit Betroffenen über persönliche Schicksale und die gefährdete Demokratie. Ihr Fazit: Das gesellschaftliche Klima ist vergiftet.

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (M.) sitzt an einem runden Tisch in seinem Amtssitz Schloss Bellevue. Neben ihm sitzen Opfer und Angehörige von Betroffenen, die politische Gewalt erlebt haben.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (M.) im Gespräch mit Opfern und Hinterbliebenen von politischer GewaltBild: Annette Riedl/dpa/picture alliance

Neun Menschen, neun Geschichten von politischer Gewalt. Selbst erlebt oder persönlich betroffen, weil der Vater, der Ehemann oder Bruder ermordet worden sind. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sie in seinen Berliner Amtssitz zu einem Runden Tisch eingeladen, um darüber ins Gespräch zu kommen.

"Politische Gewalt trifft nicht jeden, aber sie betrifft uns alle. Sie bedroht unsere Art zu leben, sie bedroht unsere Freiheit", sagt das Staatsoberhaupt in seiner Begrüßungsrede. Links neben ihm sitzt Irmgard Braun-Lübcke, die Witwe des 2019 von einem Rechtsextremisten getöteten Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke. Sie beschreibt, was ihr Sorgen bereitet: "Diese verrohte Sprache, das aggressive Klima, das dadurch entsteht. Und dass der politische Gegner kein Diskussionspartner ist, sondern ein Feind wird." 

Die meisten Betroffenen geraten in Vergessenheit

Der Name Walter Lübcke sei in Erinnerung geblieben, meint der Bundespräsident. "Häufig aber konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit allzu sehr auf die Täter. Und häufig ist ein Anschlag noch gar nicht aufgeklärt, da zieht schon die nächste Tat alle Aufmerksamkeit auf sich."

Portraitbild des 2019 von einem Rechtsextremisten ermordeten Christdemokraten Walter Lübcke.
Der Christdemokrat Walter Lübcke wurde 2019 auf der Terrasse seines Hauses von einem Rechtsextremisten erschossen Bild: Uwe Zucchi/dpa/picture alliance

Astrid Passin, die rechts von Steinmeier Platz genommen hat, kann das aus bestätigen. Ihr Vater wurde von einem islamistischen Attentäter ermordet, der 2016 mit einem Lastwagen in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin raste. "Man hat das Gefühl, dass viele Betroffene wortwörtlich in der Versenkung verschwunden sind", sagt sie.

Der Opfer-Beauftragte der Bundesregierung hört aufmerksam zu 

Die Rechte der Opfer müssten mehr in den Vordergrund gerückt werden, fordert Passin. Dabei ist durchaus schon einiges passiert. So hat die Bundesregierung einen Beauftragten für die Opfer von Terroranschlägen benannt: den Bundestagsabgeordneten Pascal Kober.

Der Freidemokrat (FDP) ist auch im Saal und hört aufmerksam zu, als Said Etris Hashemi über die Folgen des Attentats eines Rechtsextremisten und Rassisten in Hanau 2020 berichtet. Hashemis Bruder wurde damals ermordet, er selbst schwer verletzt. Inzwischen hat er ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben. Stellvertretend für Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen, die Opfer rechtextremer Gewalt geworden seien, betont er.

Familie Gültekin nach den Morden von Hanau

Nicht auf den "populistischen Zug" aufspringen

"Die Herausforderungen, mit denen ich zu kämpfen hatte, damit haben viele Menschen in diesem Land zu kämpfen", sagt Hashemi. Die Erfahrungen, die Angehörige der Anschlagsopfer mit staatlichen Behörden  gemacht haben, seien katastrophal gewesen. Gleichzeitig habe es viel Solidarität aus der Gesellschaft gegeben: "Die ganz große Mehrheit dieses Landes ist nicht rechts, sie ist demokratisch."

Wenn aber die demokratische Mitte anfange, auf diesen populistischen Zug aufzuspringen, finde er das gefährlich. Deshalb bittet er den Bundespräsidenten, eine starke Botschaft an die demokratische Mitte zu senden, "produktive Debatten zu führen".

Auch die Presse wird bedroht

Die Witwe des ermordeten Christdemokraten Walter Lübcke wünscht sich, soziale Medien mehr in die Verantwortung zu nehmen. Also jene Plattformen, auf denen massenhaft Hass und Gewalt propagiert werden. Davon erzählt die Journalistin Franziska Klemenz, die vor allem während ihrer Zeit bei der "Sächsischen Zeitung" permanent bedroht und beleidigt wurde.

Auf einer Demonstration der islamfeindlichen Pegida-Bewegung in Dresden zeigt die Polizei mit zahlreichen Einsatzfahrzeugen Präsenz.
Demonstrationen der islamfeindlichen Pegida-Bewegung in Dresden finden seit 2015 statt Bild: Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

Erste Erfahrungen habe sie auf Demonstrationen der islamfeindlichen Pegida-Bewegung in Dresden gemacht, aber auch am Rande von Fußballspielen: Flaschenwürfe, Reizgas, sexualisierte Gewalt. "Die wissen sehr genau, wer man ist", sagt Klemenz und spielt damit auf das Bedrohungspotenzial an. Inzwischen arbeitet sie in Berlin, sorgt sich aber weiterhin um die Kolleginnen und Kollegen der Lokalpresse.

Keine Lösung: "Was passiert, wenn wir niemand auf die Demo schicken?"

Sie wünsche sich, dass mehr getan werde, dass die geschützt arbeiten könnten. "Was passiert, wenn wir niemanden auf die Demo schicken? Was passiert, wenn Lokalpresse sich zurückzieht? Dann nimmt die Korruption zu, der Rechtsextremismus - und die Wahlbeteiligung nimmt ab."

"Lügenpresse halt die die Fresse" steht auf einem weißen, in einer Kunststofffolie steckendem Blatt Papier, das eine nicht zu erkennende Person in der Hand hält.
In rechtsextremen Milieus sind Medien zum Feindbild geworden Bild: Daniel Naupold/dpa/picture-alliance

Anfeindungen gegenüber Medien und Politik haben längst spürbare Folgen. In vielen Gemeinden will niemand mehr für öffentliche Ämter kandidieren. Die Menschen ziehen sich zurück - Katrin Habenschaden von den Grünen gehört zu ihnen. Die ehemalige Zweite Bürgermeisterin Münchens ist 2023 zurückgetreten. Am Runden Tisch des Bundespräsidenten redet sie erstmals offen über ihre Beweggründe.

Drohung: "Ich weiß, wo Du wohnst"

Man habe ihr nach einer Veranstaltung zu verstehen gegeben, dass sie sich nie mehr sicher fühlen soll. Habenschaden musste sich Sätze wie diese anhören: "Ich weiß ganz genau, wo Du wohnst. Und ich weiß auch, wie Deine Kinder heißen."

Matthias Ecke hat sich von verbalen Bedrohungen nicht einschüchtern lassen und denkt auch nach einem Überfall auf ihn nicht ans Aufgeben. Der Europa-Abgeordnete wurde im Mai 2024 von vier Jugendlichen im Wahlkampf in Dresden schwer im Gesicht verletzt und musste operiert werden. Trotzdem wirkt er beim Runden Tisch des Bundespräsidenten zu politischer Gewalt sehr gelassen.

Trotz allem: Die AfD eilt von Erfolg zu Erfolg

"Mir macht das nicht persönlich Angst. Aber mir macht es Angst mit Blick auf die Gesellschaft, in der meine Kinder großwerden", sagt der Sozialdemokrat. Die extreme Rechte sei es, die dieses Klima herstelle, erklärt Ecke: "Es gibt eine relativ hohe Zustimmung zu Akteuren der extremen Rechten, was wir jetzt in Landtagswahlen im Osten gesehen haben."

Der SPD-Europa-Abgeordnete Matthias Ecke trägt eine große, schwarz gerahmte Brille und einen Kinnbart.
Der sächsische Europa-Abgeordnete Matthias Ecke (SPD) wurde 2024 beim Aufhängen von Wahlplakaten überfallen und schwer verletzt Bild: Heiko Rebsch/dpa/picture alliance

Damit meint der 41-Jährige die Alternative für Deutschland (AfD), die am Tag vor der Gesprächsrunde im Schloss Bellevue bei der Landtagswahl in Brandenburg rund 30 Prozent erzielt hat. Anfang September war die von mehreren Verfassungsschutzämtern auf Landesebene als "gesichert rechtsextremistisch" eingestufte Partei in Eckes Heimat Sachsen ebenso erfolgreich. In Thüringen wurde sie sogar stärkste politische Kraft. 

Schüsse auf das Büro eines Landtagsabgeordneten 

Auf das Landtagsbüro von Andreas Schumann in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) wurde nach Schmierereien und zerstörten Fensterscheiben sogar geschossen. Um sich und sein Team zu schützen, ist er umgezogen und sitzt jetzt in einem abgeschotteten Raum mit Sicherheitstür und Kamera. Er sei in die Unsichtbarkeit gezwungen worden. "Und das finde ich bedrückend", meint Schumann nachdenklich.

Mit dem Aufkommen der AfD sei das politische Klima deutlich rauer geworden. Was der Musikpädagoge und politische Quereinsteiger aber bis heute nicht versteht: Zu den eingeschlagenen Scheiben habe sich seinerzeit auf Twitter (heute X) die Antifa bekannt. Der Angriff war aus dem linksextremistischen Milieu verübt worden.

Tritte gegen den Kopf einer Polizistin

Aus dieser Ecke stammten vermutlich auch die Angreifer, die der am Boden liegenden Polizistin Kim Pfuhl im Juni 2024 auf den Kopf getreten haben. Die Beamtin war zum Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des AfD-Bundesparteitages eingesetzt. Sie habe sich hilflos gefühlt, schildert Pfuhl die bedrohliche Situation: "Was mache ich jetzt? Komme ich hier überhaupt mal wieder lebend hoch?" Am Ende hat ein Kollege sie aus der Menge herausgezogen.

Polizei: Wachsende Angst vor Gewalt im Einsatz

Hilflos fühlt sich noch immer der jüdische Student Lahav Shapira. Er wurde in Berlin von einem Kommilitonen krankenhausreif geschlagen. Schon vor dem Überfall sei klar gewesen, dass Hetze und Pöbelei gegenüber jüdischen Studierenden nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 zugenommen hätten. Trotzdem sei nichts zu ihrem Schutz passiert, kritisiert Shapira vor allem die Verantwortlichen der Freien Universität Berlin.

Politisch motivierte Gewalt nimmt seit Jahren zu

Auch seine Geschichte ist eine von politischer Gewalt, die in Deutschland seit Jahren auf dem Vormarsch ist. Das belegen auch die Zahlen des Bundeskrimianalamtes (BKA): Demnach steigt die Zahl der Gewaltdelikte in allen Bereichen - im Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus. 

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland