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Politik

Deutschland stellt Hilfe für Afghanistan in Frage

Ben Knight
28. Dezember 2022

Die Taliban verbieten die Arbeit von Frauen in Hilfsorganisationen. Viele Projekte in Afghanistan sind unterbrochen und die Bundesregierung streicht Gelder.

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Straßenszene in Kabul im Dezember 2022 mit vielen verhüllten Frauen
Straßenszene in Kabul im Dezember 2022Bild: Bilal Guler/AA/picture alliance

Die Bundesregierung arbeitet in der Entwicklungshilfe zwar nicht offiziell mit den radikal-islamistischen Taliban zusammen. Doch sie unterstützt die Arbeit von Hilfsorganisationen im Land. Nach Angaben des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ist Deutschland seit langem der zweitgrößte bilaterale Geber hinter den USA mit jährlich bis zu 430 Millionen Euro.

Doch damit ist vorerst Schluss. "Mit dem Beschäftigungsverbot für weibliches Personal von Nichtregierungsorganisationen haben die Taliban in Afghanistan einen unverantwortlichen Schlag gegen die Hilfe für das afghanische Volk getan", so Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze. Ohne weibliche Beschäftigte könnten Organisationen ihre Arbeit in vielen Bereichen für die Hälfte der Bevölkerung nicht fortführen. "Damit ist eine völlig neue Situation entstanden." 

Weitere Finanzhilfen für Afghanistan werden ausgesetzt, laufende Projekte in der Entwicklungshilfe unterbrochen. Nur die Gehälter der Mitarbeiter vor Ort werden weitergezahlt. Schulze kündigte an, ihr Ministerium werde "kurzfristig" mit der Weltbank zu einem Treffen der Beteiligten des Afghanistan Reconstruction Trust Fund einladen. Gemeinsam werde man beraten, "ob und gegebenenfalls wie in der von den Taliban jetzt geschaffenen Situation die Unterstützungsarbeit für die Menschen in Afghanistan fortgeführt werden kann." 

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock - die eine "feministische Außenpolitik" vertritt - verurteilt die Entscheidung der Taliban. "Wir werden nicht akzeptieren, dass die Taliban in ihrer Frauenverachtung humanitäre Hilfe zum Spielball machen", schrieb sie beim Kurznachrichtendienst Twitter. "Wer Frauen und Mädchen von Arbeit, Bildung und öffentlichem Leben ausschließt, ruiniert nicht nur sein Land. Geschlechtsbezogene Verfolgung kann auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein. Wir setzen uns für eine deutliche Reaktion der internationalen Gemeinschaft ein."

Vorerst sollen keine weiteren Gelder für humanitäre Hilfe nach Afghanistan fließen. Die Mittel für 2022 seien ausgezahlt. Vor der Vergabe weiterer Finanzhilfen werde nun geprüft, inwieweit dies unter den neuen Bedingungen überhaupt möglich sei.

Arbeit "ausgesetzt, eingestellt oder reduziert"

Die islamistisch-fundamentalistischen Taliban hatten am 24. Dezember allen weiblichen Mitarbeiter in nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen verboten, weiter zu arbeiten. Die "Agency Coordinating Body for Afghan Relief & Development" (ACBAR) - eine Dachorganisation für 183 lokale und internationale Hilfsgruppen in Afghanistan - teilte zwei Tage später mit, dass viele ihrer Mitglieder ihre Tätigkeit daraufhin "ausgesetzt, eingestellt oder reduziert" hätten.

In einer Mitteilung wird von "tiefer Besorgnis" gesprochen. Weibliche Mitarbeiter spielten eine wesentliche Rolle in der humanitären Arbeit, ohne sie würden Hilfsorganisationen daran gehindert, wesentliche lebensrettende Arbeit in Afghanistan zu leisten.

Eine Frau in einer blauen Burka hält eines ihrer beiden Babys, die im Oktober 2021 in der Unterernährungsstation des Indira Gandhi Children's Hospital behandelt werden, auf dem Arm.
Eine Mutter auf einer Unterernährungsstation in Afghanistan (Oktober 2021)Bild: Felipe Dana/AP/dpa/picture alliance

Die Dachorganisation forderte das Wirtschaftsministerium "dringend" auf, ihr Aussetzungsschreiben zurückzuziehen und "offene Diskussionen zu führen, um einen konstruktiven und dauerhaften Weg nach vorne" zu finden. Alle bei ACBAR zusammengeschlossenen lokalen und internationale Organisationen haben das Statement unterschrieben. Sie beschäftigen insgesamt mehr als 55.000 afghanische Mitarbeitende, mehr als ein Viertel davon sind weiblich.

Die Welthungerhilfe reagiert

Auch deutsche Hilfsorganisationen haben ihre Arbeit eingestellt. Darunter auch die seit 1980 in Afghanistan tätige Welthungerhilfe (WHH), die davor warnt, die jüngste Maßnahme der Taliban werde "katastrophale Auswirkungen" auf alle Hilfsprogramme haben. Betroffen seien Nahrungsmittelverteilungen, Gesundheitsversorgung, Bildungsangebote und die Unterstützung von behinderten Menschen.

Für die Arbeit der Welthungerhilfe in Afghanistan hat die Bundesregierung zwölf Millionen Euro bereitgestellt. WHH-Generalsekretär Mathias Mogge sagte gegenüber der DW, die Entscheidung der Taliban habe seine Organisation in Dilemma gebracht. "Ich hoffe, dass dies nur eine sehr vorübergehende Situation ist und wir unsere Arbeit wieder aufnehmen können."

Männer dürfen keine Häuser betreten

Ohne weibliche Mitarbeiter könnten Frauen und Mädchen im Land nicht mehr adäquat versorgt werden, weil männliche Helfer allein keine Chance hätten, die Arbeit zu leisten. "Männer dürfen keine Haushalte betreten. Ohne weibliches Personal ist es also fast unmöglich, die am stärksten gefährdeten Menschen in der Gemeinde zu erreichen, und es sind Frauen, die oft an ihre Häuser gebunden sind", so Mogge.

Afghanistan Kabul. Eine Gruppe protestierender Frauen steht vor einem Gebäude in Kabul. Ein bewaffneter Taliban-Kämpfer beobachtet sie.
Frauen, die gegen ihre Unterdrückung protestieren, begeben sich in LebensgefahrBild: Getty Images

"Hilfskräfte können sehen, wie viele Frauen in einem Haushalt leben, sie können prüfen, was es für schlimme Fälle gibt: Gibt es kranke Kinder? Gibt es Schwangere? Sie sammeln viele extrem wichtige Informationen, die wir brauchen, um angemessen reagieren zu können."

Düstere Lage

Die Situation für die weiblichen Mitarbeiter der Welthungerhilfe, von denen viele Afghaninnen seien, wäre bisher schon schwierig genug gewesen. "Frauen werden schikaniert, unnötig kontrolliert oder festgenommen", sagt Mogge. "Frauen müssen auch von einem Mann begleitet werden."

Afghanistan, Kabul: Taliban hindern Frauen am Betreten der Universität. Eine Frau steht vor einer Absperrung, durch die ein Mann von bewaffneten Taliban eingelassen wird.
Kein Zutritt: Taliban verhindern, dass Frauen zur Universität gehenBild: Ali Khara/REUTERS

Mehr als ein Jahr nach der Wiedereroberung durch die Taliban bleibt die humanitäre Lage in Afghanistan katastrophal. Nach Angaben des WHH sind 28,3 Millionen Menschen im Land, mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mindestens 20 Millionen sind vom Hungertod bedroht.

Die Caritas setzt ihre Arbeit teilweise fort

Stefan Recker, Landesbeauftragter für Afghanistan bei der deutschen Hilfsorganisation Caritas erklärte, seine Organisation habe alle ihre Mitarbeiterinnen aus Sicherheitsgründen aufgefordert, nach Bekanntgabe der Verordnung nicht zur Arbeit zu kommen. Da das Arbeitsverbot nicht für medizinische Projekte gelten soll, könnten drei entsprechende Hilfsmaßnahmen der Caritas aber fortgesetzt werden. 

Das Foto zeigt Stefan Recker, den Leiter des Caritas-Büro in Kabul. Er hat graue Haare, einen Bart und trägt eine Brille.
Stefan Recker, Leiter des Caritas-Büros in Kabul Bild: Hamdard/Welthungerhilfe

Viele Caritas-Arbeiten würden so oder so weitergehen können, so Recker. "Rund 80.000 Menschen hängen von dieser Arbeit ab, wir können sie nicht einfach aufgeben", sagt er der DW aus seinem Büro in Kabul. "Eine Unterbrechung der Arbeit ist möglich, aber wir können nicht einfach auf unbestimmte Zeit aufhören."

Ungewisse Zukunft

Besonders schwierig wird es nach Ansicht von Recker für Organisationen, deren Projekte nicht einfach unterbrochen werden können. In der Landwirtschaft beispielsweise. Wenn Saatgut verteilt werde, müsse das zu einem bestimmten Zeitpunkt gesät werden.

Die Arbeit der Hilfsorganisationen habe in den eineinhalb Jahren Taliban-Herrschaft entscheidend dazu beigetragen, eine totale Katastrophe zu verhindern. "Die Situation war im vergangenen Dezember viel düsterer. Vor einem Jahr dachten alle, das Land würde komplett zusammenbrechen, die Menschen würden auf den Straßen verhungern." Natürlich sollte alles versucht werden, damit Afghanistan auf eigenen Füßen stehen könnte. "Wie das zu schaffen sein könnte, dafür fehlt mir aber jede Vorstellung."