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Deutschland soll US-Langstreckenwaffen bekommen

12. Juli 2024

Wegen der russischen Aggression wollen die USA wieder weitreichende Waffen in Deutschland stationieren. Parteien am rechten und linken Rand warnen vor einer neuen Rüstungsspirale.

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USA 2002 | Neue Generation des Tomahawk-Marschflugkörpers mit verbesserter Zielsteuerung
Die Tomahawk-Marschflugkörper des US-Herstellers Raytheon werden seit mehr als 30 Jahren eingesetztBild: Everett Collection/picture alliance

Erstmals seit den 90er Jahren wollen die USA wieder Langstreckenwaffen in Deutschland aufstellen. Das wurde beim jüngsten NATO-Gipfel in Washington vereinbart. "Wir wissen, dass es eine unglaubliche Aufrüstung in Russland gegeben hat, mit Waffen, die europäisches Territorium bedrohen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington. 

Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten die USA ihre Arsenale weitreichender Waffen in Europa deutlich abgebaut, ebenso die Sowjetunion und deren Hauptnachfolgestaat Russland. Entspannung lag damals in der Luft; die Sicherheit schien trotzdem gewährleistet. Doch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 ist die alte Konfrontation zurückgekehrt. Und Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius sieht militärisch "eine durchaus ernstzunehmende Fähigkeitslücke", wie er im Deutschlandfunk sagte.

Eine Frage der Reichweite

Bei den geplanten Waffen, die ab 2026 stationiert werden sollen, geht es um Marschflugkörper vom Typ Tomahawk; sie haben sich seit mehr als dreißig Jahren bewährt, zuletzt im Kampf gegen die Huthi-Rebellen im Jemen.

Marschflugkörper fliegen im Gegensatz zu Raketen, die eine Ellipse als Flugbahn beschreiben, parallel zum Boden in sehr geringer Höhe. Daher können sie vom gegnerischen Radar nur schwer erfasst und abgefangen werden. Auch US-Raketen mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit und Reichweiten von mehr als 2750 Kilometern sind für Deutschland geplant, sind aber noch in Entwicklung.

Deutschland hat zwar mit den Taurus-Modellen leistungsfähige eigene Marschflugkörper, diese fliegen aber nur etwa 500 Kilometer weit und werden von Flugzeugen aus der Luft abgefeuert. Die Tomahawks können dagegen vom Boden und von Schiffen aus starten und haben eine Reichweite von bis zu 2500 Kilometern. Zum Vergleich: Die Luftlinie von Berlin nach Moskau beträgt etwa 1600 Kilometer.

Kampfflugzeug im Flug schräg von unten
Die deutschen Taurus-Marschflugkörper (unter dem Rumpf) werden von Flugzeugen aus abgefeuert und haben weniger Reichweite als die Tomahawk aus den USABild: Andrea Bienert/Bundeswehr/dpa/picture alliance

Zur russischen Enklave Kaliningrad an der Ostsee sind es sogar weniger als 600 Kilometer. Von dort droht auch die größte russische Gefahr, glaubt Verteidigungsminister Pistorius. Denn "Russland hat diese Waffensysteme schon seit längerem, unter anderem, wie wir vermuten, in Kaliningrad stationiert, das heißt, in absoluter Reichweite zu Deutschland und anderen europäischen Nationen", sagte er in den ARD-Tagesthemen.

Sorge vor einem Rüstungswettlauf

Die politische Reaktion in Deutschland auf die geplante Stationierung ist gespalten. Grob gesagt, wird sie von den Parteien der Mitte befürwortet und von den Rändern abgelehnt. Die Kanzlerpartei SPD, die sich als Friedenspartei versteht, betrachtet den Schritt gleichwohl als notwendig. Grundsätzliche Zustimmung kommt ebenso von den beiden kleineren Koalitionspartnern, den Grünen und der liberalen FDP, auch von der größten Oppositionspartei, der konservativen CDU/CSU.

Zwei Männer in Anzügen begrüßen sich herzlich
US-Präsident Joe Biden (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz hatten die Stationierung beim NATO-Gipfel in Washington vereinbartBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Vertreter der rechten AfD, der Linkspartei und dem neu gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht, einer Abspaltung der Linkspartei, äußerten Sorge vor einem neuen Wettrüsten. "Die Stationierung macht Deutschland zur Zielscheibe", sagte der AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla. "Bundeskanzler Olaf Scholz handelt nicht im deutschen Interesse."

"Wir können uns definitiv auf ein neues Wettrüsten einstellen", glaubt Tim Thies vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. Er meint aber auch: "Natürlich kann beides gleichzeitig stimmen. Die geplanten Abstandswaffen können wichtige Fähigkeiten in der NATO-Strategie sein, und trotzdem muss man von einer russischen Reaktion ausgehen."

Parallelen und Unterschiede zum NATO-Doppelbeschluss

Erinnerungen an den NATO-Doppelbeschluss zu Zeiten des Kalten Krieges werden wach. 1979 hatte das westliche Bündnis die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern in Westeuropa angekündigt, um auf die sowjetische Bedrohung zu reagieren. Zugleich bot man Moskau Abrüstungsverhandlungen an. Das führte einige Jahre später zu mehreren Verträgen über nukleare Abrüstung. Aber der Doppelbeschluss spaltete die westdeutsche Gesellschaft und Politik extrem und führte zu Massendemonstrationen gegen die Stationierung, die nicht zuletzt von der damals entstehenden Grünenpartei getragen wurden. Auch Olaf Scholz protestierte damals als Jungsozialist gegen die US-Waffen.

Demonstration mit Raketenattrappe
Auch Bundeswehrsoldaten nahmen 1983 in Bonn an einer Großdemonstration gegen die Aufstellung amerikanischer nuklearer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper teilBild: Heinz Wieseler/picture alliance

Thies weist zwar darauf hin, dass "am Ende dieses Prozesses damals der INF-Vertrag und die Verschrottung hunderter US-amerikanischer Raketen und noch mehr sowjetischer" stand, fügt aber hinzu: "Der Weg dahin war jedoch alles andere als unausweichlich und wurde nicht zuletzt durch das außergewöhnliche Verhältnis zwischen (US-Präsident Ronald) Reagan und (dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail) Gorbatschow bereitet."

Deutschland soll selbst Waffen entwickeln

Die jetzt geplante Stationierung ist offenbar nur als Übergangslösung gedacht. Verteidigungsminister Pistorius sagte im Deutschlandfunk, dass damit "ganz klar die Erwartung der USA zu Recht verbunden (ist), dass wir selber investieren in Entwicklung und Beschaffung von derartigen Abstandswaffen". Deutschland werde damit die Zeit gegeben, eigene Waffen zu entwickeln.

Möglicherweise wurden bereits erste Schritte dazu eingeleitet, und zwar ebenfalls beim Washingtoner NATO-Gipfel. Denn die Vertreter Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Polens haben dort eine Absichtserklärung zur Entwicklung bodengestützter Marschflugkörper mit einer Reichweite von über 500 Kilometern unterzeichnet.

Mann im Anzug schüttelt Soldaten in Uniform die Hand
Verteidigungsminister Boris Pistorius, hier bei der Verabschiedung der Brigade für Litauen, sieht eine "ernstzunehmende Fähigkeitslücke" bei der Bundeswehr gegen die russische BedrohungBild: Sean Gallup/Getty Images

Dass die Stationierungspläne bei einem Wahlsieg von Donald Trump abgeblasen werden könnten, glaubt Tim Thies nicht, im Gegenteil: "Viele der Waffensysteme, um die es jetzt geht, wurden gerade unter Trump angestoßen. Zudem soll Deutschland für deren Stationierung laut Pistorius selbst zahlen. Die Bundesregierung scheint etwaige Forderungen von einem möglichen künftigen Präsidenten Trump nahezu vorbeugend zu antizipieren."

Schon jetzt an Ausstieg aus der Rüstungsspirale denken

Die Moskauer Reaktion auf die Pläne lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, waren aber auch so erwartet worden. Die russische Sicherheit werde durch die US-Waffen beeinträchtigt, sagte Vizeaußenminister Sergej Rjabkow der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zufolge. Es handle sich um "ein Kettenglied im Eskalationskurs" der NATO und der USA gegenüber Russland. 

Tim Thies von der Universität Hamburg erwartet, "dass Russland auf die Ankündigung mit der Stationierung und weiteren Entwicklung eigener, in diesem Fall nuklearer, Langstreckensystem reagiert, die gegebenenfalls auch das Gebiet der USA erreichen können". Das spricht zwar aus seiner Sicht nicht gegen die Stationierung, aber er rät, dabei "mitzudenken, wie der Weg aus der sich anbahnenden Rüstungsspirale einmal herausführen könnte".

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Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik