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Unmut über Demokratiepraxis steigt

21. Juli 2011

Der Fall des Bahnhofprojektes "Stuttgart 21" zeigt, dass viele Bürger nicht mehr damit einverstanden sind, wie politische Entscheidungen gefällt werden. Wird die demokratische Praxis damit infrage gestellt?

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Gegner des Bahnprojektes "Stuttgart 21" protestieren. (Foto: dapd)
Bild: dapd

Die Deutschen waren bisher immer sehr stolz auf ihre Verfassung. Diese sieht politische Entscheidungen in einer so genannten "repräsentativen Demokratie" vor. Das bedeutet, dass demokratisch gewählte Volksvertreter im Auftrag der Bevölkerung handeln und für diese Entscheidungen treffen. Welcher berufstätige Bürger könnte sich auch schon persönlich jeden Tag zusätzlich um Themen wie Straßenbau, Schulen oder um Energie und Sicherheitspolitik kümmern? Zunehmend aber werden die Entscheidungen der Volksvertreter, die Weichenstellungen von Kommunal- und Landespolitikern nicht mehr akzeptiert, wenn sie nach Meinung der Bürger "falsch" erscheinen. So wie das vermeintlich unnütze und zu teure Bauprojekt "Stuttgart 21", mit dem der Bahnhof Stuttgart unter die Erde verlegt und ein Teil der Innenstadt von Stuttgart umgestaltet werden soll.

Künftig stehen im Zuge der neuen Energiepolitik der Bundesregierung noch ganz andere Projekte an, die Anlass zu Bürgerprotesten geben könnten. Starkstrommasten, große Windkraftanlagen, unterirdische Kohlendioxidleitungen und Kohlekraftwerke. Immer mehr Politiker sehen sich handlungsunfähig, wenn gegen Bauprojekte massiv protestiert wird, obwohl diese in demokratischen Prozessen beschlossen wurden. Generell gehören zu Bauplanungen in Deutschland auch immer wieder Anhörungen von Bürgern und die Möglichkeit Einspruch gegen geplante Maßnahmen einzulegen. So war es auch im Fall "Stuttgart 21".

Viele Entscheidungen nicht nachvollziehbar

Die Planungen haben sich im Fall des Stuttgarter Bahnhofumbaus über zwanzig Jahre hingezogen. Diese Zeiträume gelten auch für viele andere umstrittenen Bauprojekte in Deutschland. Kaum jemand hat am Ende noch einen Überblick, wer wann was nach welchen Kriterien entschieden hat. Viele Termine zur Einbindung der Bürger erscheinen zudem in juristisch verklausulierten Texten im Kleingedruckten öffentlicher Mitteilungsblätter. "

Portrait Heiner Geißler. (Foto: dpa)
Vermittelte im Stuttgart 21-Streit: Heiner GeißlerBild: picture-alliance/dpa

So geht es einfach nicht", stellt der 81-Jährige ehemalige CDU-Spitzenpolitiker Heiner Geißler fest. Er vermittelte von Oktober bis November 2010 zwischen den zerstrittenen Partnern, der Bahn-Geschäftsführung, der Landesregierung und den demonstrierenden Projektgegnern. Wichtige Entscheidungen brauchen Akzeptanz in der Bevölkerung. "Dafür müssen die Prozesse viel transparenter werden. Über Fernsehen und Internet müssen alle Fakten auf den Tisch", fordert Heiner Geißler. "Bürger wollen nicht nur angehört werden. Sie wollen auf Augenhöhe mit Projektverantwortlichen mitentscheiden, sonst droht die Aushöhlung der Demokratie".

Mangelnde Akzeptanz gefährdet Demokratie

Atomkraftgegner legt Feuer an Polizeifahrzeug. (Foto: dapd)
"Es geht den Bürgern nicht mehr um Existenzielles"Bild: dapd

Die mangelnde Akzeptanz vieler politischer Entscheidungen wegen unzureichender oder unverständlicher Informationen wird häufig ergänzt durch die mangelnde Akzeptanz der politisch Handelnden selbst.

"Wir haben bereits eine postdemokratische, eine in Teilen ausgehöhlte Demokratie", stimmen führende Gesellschaftsforscher und Politikwissenschaftler überein. Dazu gehören Ulrich von Alemann, Professor für Politikwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, David Bebnowski vom Göttinger Institut für Demokratieforschung und der Leiter vom Bonner "DenkwerkZukunft", Professor Meinhard Miegel.

Viele Amts- und Mandatsträger in der Politik haben sich zum Beispiel in der Vergangenheit selbst demontiert; durch Skandale wie abgeschriebene Doktorarbeiten, Amtsmissbrauch, Steuerdelikte oder Alkoholexzesse. Die neuen Medien berichten heute umfassender als noch vor Jahrzehnten über genau diese Abgründe. Respekt geht verloren. Vor allem, wenn Politiker behaupten, gewisse Entscheidungen seien "alternativlos", wird ihnen nicht mehr geglaubt.

"Die Bürger haben zudem das Vertrauen in das wirtschaftliche System verloren, das fast ausschließlich nur den Kapitalinteressen dient", beklagt Streit-Vermittler Geißler. Tatsächlich beraten viele Industrievertreter Politiker in ihrem Interesse. Die Wirtschaft ist damit derart breit aufgestellt und gut organisiert, dass sich viele Bürger mit wenig Einflussmöglichkeiten im Nachteil sehen. Auch dieser Eindruck verhärtet Fronten.

Portrait Meinhard Miegel. (Foto: dpa)
Wirtschafts- und Sozialforscher Meinhard MiegelBild: dpa

Ziele von Politikern sind oft nicht mehr Ziele der Bürger

Die wesentliche Ursache für den verstärkten Bürgerprotest liegt aber in einer völlig veränderten Gesellschaftsstrukur. "Viele Parteien ignorieren das noch", meint Professor Miegel. So sind beinahe alle Parteien in Deutschland, wie kurz nach dem zweiten Weltkrieg, immer noch um Wachstum und mehr Wohlstand bemüht. "Genau um diese Kapitalinteressen geht es den Deutschen aber immer weniger. Nur noch vier Prozent der älteren Generation geht es noch um ein Mehr an Wohlstand. Es geht nicht mehr um Existenzielles", stellt der Gesellschaftsanalytiker Meinhard Miegel fest.

Der Grund: Trotz Finanzkrise hat es noch nie in der deutschen Geschichte so viel Vermögen in breiten Gesellschaftsschichten gegeben wie heute. Insofern bezweifelt Miegel auch den echten Mehrwert von neuen Flughäfen, unterirdischen Bahnhöfen oder aufwendigen Straßenprojekten für die breite Bevölkerung. "Diese Bevölkerung hat sich so dramatisch verändert, dass sie für ein Weiter, Höher und Schneller nicht mehr empfänglich ist", sagt Miegel. Weiten Teilen der Bevölkerung geht es inzwischen eher um ein Mehr an Lebensqualität. "Das hängt auch mit dem veränderten Bildungsgrad der Deutschen zusammen", so Professor von Alemann. Nach der Gründung der Bundesrepublik besuchten gerade einmal fünf Prozent eines Jahrgangs ein Gymnasium oder eine Universität. Heute sind es zwischen vierzig bis fünfzig Prozent. Besser gebildete Menschen mit ausreichendem Wohlstand hinterfragen eher politische Entscheidungen, und die Fragen zu vielen Maßnahmen lauten oft "Warum? und "Wozu?"

Proteste sind keine Absage an die Demokratie

Portrait Professor Ulrich von Alemann. (Foto: dw)
Professor Ulrich von Alemann, Leiter Politikwissenschaft an der Universität DüsseldorfBild: DW

Der zunehmende Bürgerprotest in Deutschland sei aber auf keinen Fall eine Attacke gegen die Demokratie. Die Einmischung spreche eher für das Empfinden vieler Bürger, zu wenig Demokratie zu haben, sagt Heiner Geißler. Jetzt schon erreichen die sogenannten "Wutbürger" eine steigende Anzahl von Bürgerentscheiden in vielen Bundesländern.

So wird es auch im Fall des umstrittenen neuen Stuttgarter Bahnhofs auf einen Volksentscheid hinauslaufen. Dieser war von der Landesregierung unter Führung des Ministerpräsidenten der Grünen bereits in Aussicht gestellt worden. Dass aber die Bürger künftig generell mehr direkte Macht über Volksbefragungen auch für deutschlandweit bedeutende Entscheidungen ausüben werden, bezweifeln viele Politikwissenschaftler allerdings.

Denn oft kommen die erforderlichen Mehrheiten für Volksbegehren gar nicht zustande. Professor von Alemann und auch Heiner Geißler befürworten daher, die Voraussetzungen für die Bürgerbeteiligung zu lockern und Hürden für Volksentscheide herabzusetzen. Aber selbst in den Fällen, in denen ein Bürgerentscheid trotz hoher Hürden zustande kam, war die Beteiligung daran in der Regel sehr niedrig. Insofern wird es wohl noch Jahre der Übung brauchen, bis Bürger und Politiker sich in einem neuen demokratischen Miteinander dauerhaft gut organisieren.

Autor: Wolfgang Dick
Redaktion: Arne Lichtenberg