Desinformation könnte Syrien zurück zum Bürgerkrieg bringen
4. Januar 2025Von Weihnachtsbäumen, die von der syrischen Übergangsregierung umgestürzt werden, über einheimische Frauen, die von terroristischen "Kopfabschneidern" als Sklaven verkauft werden, bis hin zu Berichten, dass ein führender syrischer Rebellenführer insgeheim Jude ist: Die Fehlinformationen und Desinformationen über Syrien seit dem Sturz des autoritären Assad-Regimes sind lächerlich bis entsetzlich. Und es gibt sie mehr denn je.
"Seit dem Fall des Assad-Regimes ist die Verbreitung von Fehlinformationen deutlich gestiegen", sagt Zouhir al-Shimale, Forscher und Kommunikationsmanager der syrischen Organisation Verify-Sy, die Fakten prüft. "Jahre der Revolution und des Bürgerkriegs haben tiefe Gräben hinterlassen, und verschiedene Gruppierungen - sowohl lokale als auch internationale - nutzen jetzt Desinformationen, um ihre Positionen zu stärken, Rivalen zu delegitimieren und ihre eigenen Ziele zu erreichen", erklärt er der DW.
Wenige bestätigte Fälle von Selbstjustiz
Anfang Dezember stürzte eine von der syrischen Rebellenbewegung Haiat Tahrir al-Scham (HTS) angeführte Offensive das brutale, diktatorische Regime der Familie Assad, das Syrien 54 Jahre lang kontrolliert hatte. HTS war früher mit extremistischen Organisationen wie Al-Kaida und dem "Islamischen Staat" (IS) verbunden, hatte jedoch versucht, sich in den letzten Jahren von diesen Gruppen zu distanzieren. Viele Syrer waren dennoch besorgt darüber, wie sich die von der HTS angeführten Rebellen verhalten würden, ob sie Rache nehmen oder versuchen würden, ihre Art von islamischer Politik Menschen mit anderen Überzeugungen aufzuzwingen.
Insbesondere Gruppen, die als Unterstützer des Assad-Regimes gelten - wie die syrischen Alawiten, die religiöse Minderheit, zu der auch die Assad-Familie gehört - machten sich Sorgen, dass die Gegner Assads nun Rache an ihnen üben würden. Obwohl die Sicherheit für die Zivilbevölkerung nach wie vor ein großes Problem darstellt, scheint es bisher nur wenige bestätigte Fälle von Selbstjustiz oder religiöser Verfolgung durch die derzeitigen Machthaber gegeben zu haben.
Allerdings wird dies durch angebliche und unbestätigte Missbrauchsfälle im Internet in den Schatten gestellt, von denen die meisten irreführend oder gefälscht sind, wie verschiedene Faktencheck-Organisationen vermuten. So wurden beispielsweise, wie die Faktencheck-Gruppe Misbar berichtet, Weihnachtsbäume letzte Woche nicht von der neuen syrischen Regierung entfernt, sondern 2023 von den Behörden in der irakischen Stadt Kerbela. Und Posts über Sklavenmärkte für Frauen in Syrien stammen aus einem Projekt eines kurdischen Künstlers aus dem Jahr 2013, fand Misbar heraus.
Wer ist verantwortlich?
Teilweise oder vollständig unwahre Beiträge in den sozialen Medien stammen wahrscheinlich von vielen verschiedenen Quellen. Es gibt so viele Akteure mit unterschiedlichen Interessen in Syrien und eine derart große Menge an Desinformation, dass es schwierig wäre, eine einzelne Quelle eindeutig zu identifizieren. Dies liegt auch an den sich überschneidenden Interessen und der gegenseitigen Verstärkung von Falschmeldungen durch nicht miteinander verbundene Akteure.
Syrer veröffentlichen falsche Posts auf sozialen Medien oft entweder unbeabsichtigt, weil sie diese für wahr halten und keine Möglichkeit haben, sie zu verifizieren, oder aufgrund ihrer persönlichen Absichten.
Das Assad-Regime habe "etwas wie eine 'eiserne Kuppel' für Informationen aufgebaut", erklärt al-Shimale von Verify-Sy. Es "dominierte die Informationslandschaft in Syrien und hat die Syrer seit dem ersten Tag im Jahr 2011 mit Propaganda und Fake News über die Opposition gefüttert." Das Ende des Assad-Regimes habe ein Informationsvakuum hinterlassen für diejenigen, die Assad-kontrollierte Medien als vertrauenswürdige Quelle betrachteten, fügt er hinzu.
Zudem herrsche in Syrien immer noch große Unsicherheit und Angst, wie Rana Ali Adeeb, Forscherin an der Concordia University in Kanada, in einem Meinungsartikel vergangenen Monat schrieb. Sie untersucht, wie Emotionen die Wahrnehmung von Fake News beeinflussen. "Die emotionale Ansteckung durch Fake News ist in fragilen Zeiten wie diesen besonders gefährlich", betont sie.
All dies mache die Menschen "viel anfälliger für Desinformation und Falschmeldungen, etwas, das Assad-Anhänger, Iran und Russland wissen und ausnutzen", sagt al-Shimale der DW.
Internationale Einmischung
Während des 13-jährigen syrischen Bürgerkrieges positionierten sich Staaten entweder für oder gegen das Assad-Regime. Forscher wissen bereits, dass Assads engste Verbündete, Russland und Iran, Desinformationskampagnen gegen die syrische Opposition unterstützten oder führten. Jetzt, so wird vermutet, spielen diese internationalen Akteure eine ähnliche Rolle.
"Die Informationsmanipulations-Apparate Russlands und Irans arbeiten auf Hochtouren", schreibt Marcos Sebares Jimenez-Blanco, Fellow des German Marshall Fund, in einem Briefing Mitte Dezember. Sie versuchten "die Erzählung über die Entwicklungen in Syrien so zu gestalten, dass sie ihre militärischen, strategischen und geopolitischen Niederlagen ausgleichen."
Al-Shimale von Verify-Sy hat bereits zuvor auf eine Reihe von nicht authentischen Facebook-Seiten hingewiesen, die im Dezember unter Namen eingerichtet wurden, die an die von Menschenrechtsgruppen erinnern. Die Accounts konzentrieren sich jedoch überwiegend auf die Alawiten-Gemeinschaft. Durch die Veröffentlichung von Desinformationen und den Einsatz automatisierter, gefälschter Konten oder "Bots" zur Verbreitung von Desinformationen machen diese gefälschten Seiten den Alawiten Angst und fordern sie dann auf, bewaffneten Widerstand zu leisten, erklärt Al-Shimale.
Gefährliche Allianz
Was die aktuelle Flut von Desinformation über Syrien noch besorgniserregender macht, ist das Zusammentreffen unterschiedlicher Agenden und Meinungen. Unterstützer der syrischen kurdischen Gruppen in Nordsyrien, die für ihre Unabhängigkeit eintreten, tendieren eher dazu, HTS mit Misstrauen und Angst zu betrachten. Gleiches gilt für Menschen, die ein säkulares Syrien befürworten oder Teil einer Minderheit sind.
Gleichzeitig verstärken islamfeindliche, einwanderungsfeindliche Rechte in den USA und Europa Beiträge, die HTS grob als "Kopfabschneider" und Syrien als "Dschihadistan" bezeichnen. Unterdessen haben Verschwörungstheoretiker außerhalb Syriens (fälschlicherweise) spekuliert, dass HTS nur eine Marionette der US-amerikanischen oder israelischen Regierungen sei.
Es gibt auch einige Ausreißer, zum Beispiel türkische Nationalisten, die gegen syrische Kurden hetzen. Doch die meisten Meinungen, die durch irreführende Social-Media-Berichte beeinflusst werden, richten sich gegen die syrischen Rebellen, die derzeit die Übergangsregierung führen.
Störung des Friedens
Desinformation hat bereits Auswirkungen. So löste letzte Woche ein Video, das einen offensichtlichen Racheakt - die Schändung eines alawitischen Schreins - zeigte, Proteste von Tausenden von Menschen in Gebieten mit alawitischer Bevölkerungsmehrheit aus. Später stellten Faktenprüfer fest, dass das Video irreführend war.
Desinformationen können sich auch darauf auswirken, wie die internationale Gemeinschaft Syrien sieht und unterstützt, vermutet al-Shimale. "Sie könnten die Außenwahrnehmung Syriens als ein Land prägen, das nicht in der Lage ist, sich nach Assad zu stabilisieren."
"Dies ist ein heikler Moment für Syrien und für uns alle, die wir seine Geschichte miterleben", so Ali Adeeb in ihrem Meinungsartikel. "Es steht außerordentlich viel auf dem Spiel. Während sich die Situation in Syrien weiterentwickelt, hat jede Information das Potenzial, Meinungen zu beeinflussen, Entscheidungen zu lenken und Handlungen auszulösen."
Aus dem Englischen adaptiert von Marco Müller.