1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Der Wahnsinn des Krieges - Briefe aus dem Nachlass von Heinrich Böll

8. Oktober 2001

Die Veröffentlichung der Frontberichte von Heinrich Böll ist eine kleine Sensation.

https://p.dw.com/p/1Asc

Heinrich Böll ist gerade 22 Jahre alt, als er 1939 als Gefreiter der Wehrmacht eingezogen wird und den Zweiten Weltkrieg an verschiedensten Schauplätzen bis zur Kapitulation 1945 intensiv miterlebt. Noch liegt seine Autorenkarriere vor ihm, obwohl bereits ein paar schriftstellerische Versuche in der Schublade liegen. Fast täglich schreibt Böll Briefe - aus Frankreich, Polen, Ungarn und Russland, an Annemarie Cech, die er während des Krieges heiraten wird.

Ödnis des Soldatenlebens

Nicht müde wird der fromme Katholik Böll immer wieder zu betonen, wie "schrecklich", "wahnsinnig", "barbarisch" und "höllisch" der Krieg ist. Doch er beschreibt weniger die Schlachten und die Gräuel - Böll verbrachte an der Front selbst nur kurze Zeit. Er beschreibt vielmehr das, was den Alltag des einfachen Soldaten ausmacht. Das heißt Marschieren, Exerzieren und Posten schieben, Flure kehren und Waschräume putzen, saufen, und vor allem warten, warten und nochmals warten. Seine "Schattenexistenz" und das "Dahinvegetieren", die ganze Ödnis des Soldatenlebens breitet Heinrich Böll in allen Details aus. Böll leidet an der Langeweile, dem Dreck, der Zermürbung, dem Drill und den ihn umgebenden Stumpfsinn:

"Es gibt keine Liebe, keine Leidenschaft, nicht einmal Hass auf diesen unzähligen Gesichtern ... Sie haben alle keine Farben, keine Linien, keinen Ton. Sie leben nicht und leiden nicht."

Traum des Absoluten

Der Krieg formt den späteren Pazifisten und Nobelpreisträger für Literatur, vom dem es nach 1945 heißen wird, er sei das moralische "Gewissen der Nation". Die Briefe aus dem Jahr 1941 bringen auch eine bis dato unbekannte Seite des jungen Böll zum Vorschein:

"Auch am Soldatentum zieht mich dieses Absolutgestelltsein ungeheuer an, und es reizt mich geradezu; deshalb ist meine soldatische Sehnsucht wirklich, immer an der Front zu sein ... gerade jetzt, wo die Offensive in Gang ist – und es muss doch herrlich sein, in diese unendliche Weite Russlands vorzustoßen – ich leide maßlos darunter, so immer und immer den Krieg nur im Schatten, nur in Schulen oder Kasernen zu verleben und zum allergrößten Teil in dumpfen und dreckigen Stuben."

Schwächen der Briefedition

Was Bölls Erfahrungsberichten mangelt, ist der überwachenden NS- und inneren Zensur geschuldet. Das Thema Antisemitismus ist ausgelassen, obwohl sich einige Andeutungen zu den Unmenschlichkeiten des NS-Systems finden, wenn er sich etwa über dessen Umgang mit den "Irren" äußert.

Schade, dass die Briefedition nur Bölls Briefe enthält, antwortet dieser doch darin auf Fragen und Kommentare seiner Dialogpartnerin. Ihre fehlende Stimme hinterlässt Lücken und gibt einige Verständnisfragen auf. Annemarie Böll, an die sich die meisten Briefe richten, hat diese durchgesehen, transkribiert und gekürzt. Drei Viertel der Briefe aus dem Nachlass hat sie zur Veröffentlichung freigegeben.

Antworten auf Fragen der nachkommenden Generation

Den Wert der nun vorliegenden Kriegszeugnisse Bölls hat die "Spiegel"-Rezensentin Elke Schmitter auf den Punkt gebracht:

"Die gemischte Erfahrung von Ohnmacht und Schuld jedoch, jenes Gewirk aus Trotz und Überlebenswillen, Drückebergerei und Mut, Panik und Langeweile, Unterordnung und Überlebensgefühl, das man Verstrickung nennt, dies alles ist als Antwort auf eine politisch zweckbestimmte Frage nicht zu formulieren; es kann nur eine persönliche Erzählung werden. Eine liegt nun vor."