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Der Tag des Volksaufstands

Marcel Fürstenau13. Mai 2003

Vor 50 Jahren, am 17. Juni 1953, stand die vier Jahre zuvor gegründete Deutsche Demokratische Republik (DDR) vor dem Zusammenbruch. Nur mit Hilfe sowjetischer Truppen gelang es, den Volksaufstand niederzuschlagen.

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Arbeiteraufstand 17. Juni 1953 Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin. - Am Potsdamer Platz: gegen Mittag wer- den sowjetische Panzer aufgefahren, Steinwuerfe sind die Reaktion. - Foto.
Bild: picture-alliance/akg-images

Deutschland, acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Seit 1949 existieren zwei Teilstaaten, im Westen die Bundesrepublik, im Osten die DDR. Ein Sonderfall ist die ehemalige Reichshauptstadt Berlin: mitten in der DDR gelegen, aber nach dem Vorbild ganz Deutschlands in vier Sektoren aufgeteilt. Das Sagen haben hüben wie drüben die Siegermächte des Weltkriegs, die bis 1945 als Alliierte gemeinsam gegen das Deutsche Reich gekämpft hatten.

Im Frühsommer 1953 sind die Gemeinsamkeiten, entstanden im Kampf gegen den Hitler-Faschismus, längst Vergangenheit. Es geht um die ideologische Vorherrschaft auf der ganzen Welt: Kommunismus oder Kapitalismus? In Europa sind die Fronten klar: Die Sowjetunion konnte ihr Einflussgebiet ohne nennenswerten Widerstand des Westens bis in den Osten Deutschlands ausdehnen. Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien - lauter Satelliten-Staaten Moskaus.

Trennlinie zwischen Ost und West

Die Frontlinie erstreckt sich über fast 1400 Kilometer, so lang ist die innerdeutsche Grenze. Während in der Bundesrepublik und mit ihr im westlichen Teil Berlins der Lebensstandard Dank amerikanischer Hilfe langsam aber sicher wächst, verschärft sich die wirtschaftliche und soziale Lage in der DDR täglich. Butter, Obst und Gemüse, Fleisch - alles Mangelware. Lebensmittelkarten, auf die man im Westen schon verzichten kann, sind im Osten noch immer nötig.

Der Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin am 5. März 1953 führt zu einem Machtkampf innerhalb des Kreml, der seine Spuren auch in der DDR-Führung hinterlässt. Zwar ist neue sowjetische Führungstroika - Lawrenti Berija, Georgi Malenkow und Wjatscheslaw Molotow - heillos zerstritten, aber in Sachen DDR scheint man sich einig zu sein.

Flucht aus der DDR

Wie ernst die Lage in Ostdeutschland inzwischen ist, belegen die Flüchtlingszahlen: Rund 180.000 Menschen haben schon 1952 die DDR verlassen. Und trotz einer noch im selben Jahr errichteten fünf Kilometer breiten Sperrzone an der innerdeutschen Grenze machen sich nach Lesart des SED-Regimes allein bis Ende Juni 1953 weitere 226.000 Ostdeutsche der "Republikflucht" schuldig.

Walter Ulbricht - Foto: AP Photo/ Spremberg
War 1953 Erster Sekretär der SED: Walter UlbrichtBild: AP

Immerhin gibt sich die SED-Führung ungewohnt selbstkritisch und räumt Fehler ein. Um die in den Westen geflüchteten Bauern, Handwerker und Einzelhändler zur Rückkehr zu bewegen, wird ihnen die Rückgabe ihres Eigentums in Aussicht gestellt. Die Justiz, deren willkürliche Rechtssprechung binnen Jahresfrist zu einer Verdoppelung der Häftlingszahlen auf 60 000 geführt hat, soll ihre Urteile überprüfen.

Arbeiterproteste werden zum Volksaufstand

Als dann die Erhöhung der Arbeitsnormen verkündet wird, formieren sich nun die Bauarbeiter in Berlin. Schon spricht die DDR-Führung von "westlichen Provokateuren", die angeblich hinter den Protesten stecken. Doch kaum jemand in glaubt den offiziellen Verlautbarungen.

Aufgebrachte Arbeiter aus der Stalinallee, die ein für sozialistische Verhältnisse luxuriöses Wohnhaus-Projekt errichten, treten in den Streik und machen sich auf den Weg in die Berliner Innenstadt. Ihr Ziel: das Haus der Ministerien. Mehrere tausend Demonstranten verlangen in Sprechchören, den Staats- und den Regierungschef zu sprechen, erinnert sich Peter Bruhn. Der damals 27 Jahre alte Bibliotheksreferendar hat sich wie viele andere spontan dem Protestzug angeschlossen.

Anstelle von Walter Ulbricht und Otto Grotewohl wagt sich der für die Industrie zuständige Minister Fritz Selbmann heraus und versucht, die wütende Menschenmenge zu beschwichtigen. "Er sagte dann, die Regierung habe nun die Normenerhöhung zurückgenommen", erinnert sich Bruhn. "Nun hätten die Arbeiter der Stalinallee nun keinen Grund mehr zu streiken. Und er forderte sie auf, an ihre Arbeitsplätze in der Stalinallee zurückzukehren."

Generalstreik

Die Demonstranten geben sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Zu oft schon sind sie von ihrer Regierung enttäuscht worden. Schließlich springt ein Arbeiter auf. An dessen Worte erinnert sich Peter Bruhn noch sehr genau: "Wir kommen hier nicht weite,r Kollegen, wir müssen was unternehmen! Wir ziehen jetzt zurück zur Stalinallee und rufen unterwegs den Generalstreik aus. Und wir fordern alle Berliner auf, am anderen Morgen um sieben Uhr sich zu treffen, zu einer mächtigen Demonstration und Kundgebung gegen die Regierung."

Der Aufruf zum Generalstreik am 17. Juni verbreitet sich in der ganzen DDR. In Berlin klettern Demonstranten auf das Brandenburger Tor, um die dort wehende Rote Fahne herunterzuholen und unter dem Jubel der Massen zu verbrennen. Die Stimmung ist euphorisch, das Regime scheinbar am Ende. Andernorts in der DDR haben Demonstranten sogar schon die Macht an sich gerissen.

Aufmarsch sowjetischer Truppen

Die Machthaber in der DDR haben längst die Kontrolle über das Geschehen verloren. Walter Ulbricht und Otto Grotewohl werden aus Sicherheitsgründen nach Berlin-Karlshorst gebracht, zum Sitz der sowjetischen Militär-Administration. Dort treffen hochrangige, aus Moskau eingeflogene Militärs eine über den DDR-Rundfunk verbreitete Entscheidung, die dem Volksaufstand seine letztlich tragische Wendung gibt: "Ab 13 Uhr am 17. Juni 1953 wird im sowjetischen Sektor von Berlin der Ausnahmezustand verhängt. Diejenigen, die gegen diesen Befehl verstoßen, werden nach den Kriegsgesetzen bestraft."

Mit T-34-Panzern rücken die sowjetischen Truppen ins Zentrum des Aufstands ein, den Potsdamer Platz in Berlin. Peter Bruhn erlebt den Aufmarsch hautnah: "Die Russen versuchten, die Straße zu räumen, indem zwei Panzer parallel, dicht nebeneinander die ganze Straßenbreite einnehmend, auf den Potsdamer Platz zurollten, um so die Straße leerzufegen, ziemlich schnell. Man musste also sehen, dass man nicht unter die Räder beziehungsweise die Ketten kam."

"Jetzt ist Schluss"

Dann fallen Schüsse. Etwa eine Kompanie von Russen, in zwei Teile geteilt auf der rechten und der linken Straßenseite, treiben die Demonstranten etwa 50 Meter zurück. Nun setzt sich der erste der großen T-34-Panzer in Bewegung und fährt drohend auf die Massen am Potsdamer Platz zu. Peter Bruhn wird in diesen Minuten klar, dass der so hoffnungsvoll begonnene Tag bitter enden würde. Gegen sowjetische T34-Panzer sind die Aufständischen machtlos. "Da hatte ich den Eindruck, jetzt ist Schluss", sagt Bruhn. Er flüchtet sich in den Westen.

Der gescheiterte Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ist der Tag, an dem sein Leben sich auf unvorhergesehene Weise verändert. Peter Bruhn hat Glück: er lebt in Freiheit. Tausende seiner Landsleute landen in Gefängnissen und Zuchthäusern, etliche bezahlen ihren Freiheitskampf sogar mit dem Leben.

Singend und schunkelnd freuen sich junge Menschen auf der Berliner Mauer über die Grenzöffnung 1989 - Foto: Peter Kneffel dpa
Der Mauerfall 1989 läutet das Ende der DDR einBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Der große Rest, Millionen Ostdeutsche, müssen noch 36 Jahre warten, bis der Traum von Freiheit und deutscher Einheit auch für sie in Erfüllung geht - mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Wieder demonstrieren die Menschen in der DDR massenhaft gegen das SED-Regime. Doch diesmal bleiben die sowjetischen Panzer in den Kasernen.