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Der schnellste Mann der Favela

Bianca Kopsch (aus Rio)16. September 2016

Der blinde Sprinter Felipe Gomes lebt in einer der größten Favelas Rios. Spätestens seit seinem Paralympics-Gold in London 2012 ist er dort ein Star. Jetzt ist er wieder erfolgreich auf Medaillenjagd.

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Brasiliens Paralympics-Star Felipe Gomes. Foto: Getty Images
Bild: Getty Images/B. Mendes

Wenn Felipe Gomes abends müde vom Training aus dem Bus steigt, muss er nicht lange warten: Vor dem Eingang seiner Favela stehen die Motorradtaxis quasi Schlange, um ihn nach Hause zu fahren. "So viel zu der Frage, wie ich mich in der Favela bewege: Sobald ich auftauche, bieten mindestens drei Fahrer an, mich mit dem Motorrad heimzubringen - umsonst!", sagt Gomes. Umringt von Journalisten steht er jetzt in der Pressezone des Olympiastadions und lacht über die Skepsis gegenüber seinem Wohnort. Als Blinder in der Favela? Noch dazu einer der größten und gefährlichsten, die Rio de Janeiro zu bieten hat? Das war für ihn kein Hindernis.

Schnelle Laufbahn

Mit Talent und Zielstrebigkeit bahnt er sich von Anfang an seinen Weg. Obwohl man ihm schon mit vier Jahren sagt, er könne bald nicht mehr rennen. Gomes leidet von Geburt an unter Grünem Star. Plötzlich verschwinden Gegenstände aus seinem Blickfeld. Mit sechs kommt auch noch der Graue Star hinzu, er verliert langsam aber sicher die Sehkraft. Wäre er reich geboren, hätte vielleicht eine teure Behandlung sein Augenlicht gerettet. Stattdessen kommt er auf die Blindenschule.

Als 17-Jähriger läuft er dann 2003 sein erstes Rennen. Unerwarteter Auftakt einer rasanten Karriere. Ein Freund hat ihn kurzfristig zu dem Wettkampf verschiedener Vereine eingeladen. Felipe Gomes kommt prompt mit seiner ersten Medaille nach Hause und gehört schon zwei Jahre später zur brasilianischen Nationalmannschaft. Ab 2006 geht er dann international auf Medaillenjagd, fährt zu Weltmeisterschaften, den Panamerikanischen Spielen im Behindertensport und den Paralympics. Gold über 200 und Bronze über 100 Meter in London krönen 2012 seine Medaillensammlung. Und es geht immer weiter. Er holt einen Titel nach dem anderen.

Gomes bei der Siegerehrung über 100 Meter. Foto: Flickr
Kein Wettkampf von Gomes (l.) ohne PodestBild: Daniel Zappe/MPIX/CPB

Respekt der Favela

Mit den Medaillen kommen die exklusiven Fahrangebote. In der Maré, wie sein Armenviertel heißt, kennt den blinden Sprinter mittlerweile jeder. "Selbst die Banditen grüßen mich auf der Straße und gratulieren mir, wenn ich wieder etwas gewonnen habe", gibt er lachend zu. "Die Leute hier respektieren mich." Das verleiht ihm Sicherheit. Und wenn es draußen mal wieder eine Schießerei gibt, bleibt er einfach zu Hause. Gomes wohnt allein, seine Mutter und seine Schwester leben ganz in der Nähe. Er hätte schon längst wegziehen und sich von seinem Verdienst etwas Besseres leisten können. "Aber das kann ich meiner Mutter nicht antun." Der 30-Jährige lacht wieder. Doch jeder Brasilianer weiß, dass es ernst gemeint ist. Außerdem findet er hier an jeder Ecke Hilfe, die Gemeinschaft gibt ihm Halt. Und er kennt hier die vielen Hindernisse, die nicht nur Blinden das Leben in der Favela schwer machen: unebene Straßen, unzählige Schlaglöcher, fehlende Gehwege… Daran hat sich der blinde Läufer schon seit Jahrzehnten gewöhnt. Schließlich ist er hier aufgewachsen.

Gomes im 200-Meter-Finale. Foto: Reuters
Silber für Felipe Gomes (l.) in seiner Paradedisizplin 200 MeterBild: Reuters/J. Cairnduff

Voller Einsatz

Gomes führt ein selbstständiges Leben und widmet es komplett dem Sport: 5.30 Uhr aufstehen, anderthalb Stunden Fahrt mit insgesamt drei Bussen, erst zum Training, dann ins Fitnessstudio, dann zur Physiotherapie und nach neun Stunden wieder zurück nach Hause. Das Ganze sechsmal die Woche. Und alles alleine, obwohl er nichts sieht. "Das ist ein sehr hartes Programm. Sportlich wie organisatorisch. Aber wenn du dann eine Medaille gewinnst, ist es das alles wert", sagt er. Seine Zielstrebigkeit zahlt sich auch finanziell aus. Felipe Gomes hat etwas, was nicht viele hier haben: ein festes Einkommen. Er wird staatlich gefördert und hat außerdem einen Sponsor. Er kann vom Sport leben. Auch das verleiht ihm Status.

Der Topathlet erzählt seine Geschichte in Interviews gerne als Beispiel dafür, dass man es von ganz unten nach ganz oben schaffen kann, trotz aller Schwierigkeiten. Er will Vorurteilen entgegenwirken - gegen Behinderte genauso wie gegen Favelabewohner: "Ich bin stolz auf meine Herkunft. Und ich bin stolz, dass ich hier bei den Paralympics Brasilien repräsentieren darf", sagt Gomes den Journalisten im Leichtathletikstadion in Rio. "Darauf habe ich mich seit Jahren vorbereitet. Das ist mein größter Traum: in meiner Heimat auf dem Podest zu stehen!"

Gomes beim Interview in der Mixed-Zone. Foto: Bianca Kopsch/DW
Auch im Umgang mit den Medien ein ProfiBild: DW/B. Kopsch

Als Vorbild aufs Podest

Dreimal ist ihm das mittlerweile schon gelungen, lautstark umjubelt vom einheimischen Publikum: Mit der 400-Meter-Staffel holte Gomes Gold, im 100-Meter-Sprint Silber und - ganz frisch hinzugekommen - in seiner Paradedisziplin, dem 200-Meter-Lauf, mit einer Zeit von 22,52 Sekunden, ebenfalls Silber.

Am Samstag (23:49 Uhr MESZ) will er dann nach dem 400-Meter-Finale in seiner Schadensklasse T11 für vollständig Blinde das Siegertreppchen zum vierten Mal besteigen. Seine Chancen dafür stehen gut, hat er doch vergangenes Jahr in Toronto bei den Panamerikanischen Spielen der Behinderten in dieser Disziplin Gold gewonnen.

Und wenn der Medaillenjäger dann nächste Woche in sein Armenviertel zurückkommt, werden die Motorradtaxis schon bereit stehen. Jeder wird ihn fahren wollen. Obwohl er es eigentlich gar nicht nötig hat: Schließlich zählt Felipe Gomes nicht nur zu den schnellsten Blinden der Welt. Er ist auch der schnellste Mann der Favela.