Der Nagelsmann-Faktor: Deutschland zurück in der Erfolgsspur
18. November 2024Den elften Sieg im 15. Spiel des Jahres hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft knapp verpasst - doch auch so fällt die Bilanz des DFB-Teams für 2024 sehr positiv aus. Nur wenige Sekunden fehlten beim 1:1 (0:0) zum Jahresabschluss in Budapest zum Erfolg, doch durch einen diskussionswürdigen Handelfmeter kamen die Ungarn in der neunten Minute der Nachspielzeit noch zum Ausgleich.
Drei Tage nach dem beeindruckenden Sieg gegen Bosnien-Herzegowina konnte die B-Elf, die Nagelsmann gegen Ungarn aufstellte nicht vollends überzeugen. Dennoch war der Bundestrainer, der in der Startaufstellung auf neun Positionen gewechselt hatte, nicht unzufrieden.
"Wenn man sieht, wie Ungarn das 1:1 feiert, ist das schon eine kleine Auszeichnung für unsere Mannschaft", sagte Nagelsmann und schaute voraus. "Wenn wir 2025 genau so angehen, wie wir 2024 bestritten haben, werden wir 2026 deutlich präparierter sein als wir es 2024 waren."
Neuer Teamgeist unter Nagelsmann
Tatsächlich darf das Unentschieden in Ungarn nicht über die beeindruckende Entwicklung der Nationalmannschaft in diesem Jahr hinwegtäuschen. Der Bundestrainer hat das Bild der DFB-Elf nachhaltig verändert und vor allem den Zusammenhalt des Teams gestärkt.
"Wenn ich jetzt ein Jahr zurück denke - das ist sehr hypothetisch - aber glaube ich, dass einige Spieler angerufen und gesagt hätten: 'Ich habe ein paar Probleme und ich komme nicht. Ich brauche meine Kraft für den Verein.' Aber jetzt sind trotzdem alle da."
So wie Jonathan Tah, der beim Spiel gegen Bosnien-Herzegowina seine zweite Gelbe Karte in der Nations League bekommen hatte und somit gegen Ungarn gesperrt war. Der Leverkusener reiste aber nicht ab, sondern blieb bei der Mannschaft. "Es gehört zu einem gut funktionierenden Teamgeist dazu. Es ist gut, dass er dabei ist und ein gutes Zeichen", freute sich Nagelsmann.
Nagelsmann: "Ich habe gewisse Prinzipien"
Mit 37 Jahren hat Nagelsmann bereits viel Erfahrungen im Trainergeschäft sammeln können. Der Job des Bundestrainers ist seine vierte Station als Chef an der Seitenlinie. Schon 2016 wurde der damals 28-Jährige Cheftrainer der TSG Hoffenheim und damit der jüngste Coach in der Geschichte der Bundesliga. Es folgten Engagements in Leipzig und schließlich bei seinem Herzensverein FC Bayern München, mit dem Nagelsmann in der Saison 2021/22 Deutscher Meister wurde.
Bei alle seinen Vereinen zeichnete sich der Trainer durch eine klare Spielidee aus, von der er nur selten abweicht. Er wolle durch "Spielkontrolle durch hohe Balleroberung und Tempowechsel im Ballbesitz" die Gegner kontrollieren. "Ich habe gewisse Prinzipien, da gehe ich im Grunde keine Kompromisse ein. Die gelten immer, ganz egal, wie es steht, wer der Gegner ist oder wer spielt", sagte Nagelsmann in einem Interview mit der UEFA.
Nagelsmann leitet Wende ein
Der junge Trainer gilt als fußballverrückt im positiven Sinne. Ein echter Fußball-Nerd, der seiner Mannschaft stets seinen Stempel, also seine Spielphilosophie, aufdrücken möchte. Entsprechend startete er - als er im September 2023 Hansi Flick als Bundestrainer beerbte - hochmotiviert und mit vielen eigenen Ideen.
Doch die ersten Länderspiele verliefen wenig erfolgreich: ein Sieg, ein Unentschieden und zwei schmerzhafte Niederlagen gegen die Türkei und Österreich. Nagelsmann geriet auf der Suche nach seiner Erfolgsformel bereits früh ins Stocken.
Taktische und personelle Entscheidungen, wie die, Offensivspieler Kai Havertz gegen die Türkei auf der linken Verteidigerposition auszuprobieren, waren gescheitert und sorgten für Unmut im Umfeld der Nationalelf. Die Stimmung war am Tiefpunkt angelangt und so wurde die Nationalmannschaft nach der Pleite gegen Österreich im November vergangenen Jahres mit lauten Pfiffen in die Winterpause verabschiedet.
Nagelsmanns Rollenspiele gehen auf
Im März 2024 folgte dann aber der Wendepunkt. Bei der Kader-Bekanntgabe vor den ersten Länderspielen im März überraschte Nagelsmann mit sechs Neulingen im DFB-Team. Bayerns Youngstar Aleksandar Pavlović, Maximilian Beier aus Hoffenheim, Deniz Undav, Maximilian Mittelstädt, Waldemar Anton vom VfB Stuttgart sowie der Heidenheimer Freistoßkünstler Jan-Niklas Beste waren neu dabei.
Etablierte Stars wie die Dortmunder Mats Hummels, Nico Schlotterbeck, Julian Brandt, Niklas Süle oder auch Karim Adeyemi mussten genauso zu Hause bleiben wie Leon Goretzka aus München.
Der drastische Kurswechsel brachte frischen Wind ins DFB-Team und leitete einen Stimmungswandel ein. "Es war klar, dass die größte Schraube ist, den Kader so zu verändern, dass wir nicht die besten Spieler nominieren, sondern die, die zusammenpassen, bei denen wir das Gefühl haben, sie definieren sich über ihre Rolle und können gut damit umgehen", erklärte Nagelsmann.
Toni Kroos als Schlüsselfigur für gute EM
Zugunsten der funktionierenden Teamchemie verzichtet der Bundestrainer auch mal auf Qualität. Zudem hat er seine Spielidee ein wenig vereinfacht und der Situation angepasst. Denn die Zeit bis zur Weltmeisterschaft 2026 sei sehr knapp um neue Dinge auszuprobieren und einzustudieren, betont der 37-Jährige in regelmäßigen Abständen.
Kurz vor der Heim-EM im Sommer gelang Nagelsmann dann der entscheidende Coup: Er holte Weltmeister Toni Kroos, der 2021 seinen Rücktritt aus der DFB-Elf erklärt hatte, zurück in die Nationalmannschaft. Unter Kroos' Regie spielte Deutschland eine gute Europameisterschaft und brachte vor allem die Fans wieder hinter sich.
Kimmich: "Jeder hat seine Rolle mit Leben gefüllt"
Die EM wurde zur erhofften Neuauflage des Sommermärchen von 2006, denn die DFB-Elf begeisterte auf und vor allem neben dem Platz. Die Mannschaft war wieder nahbar und zugänglich - keine Spur mehr von der Überheblichkeit der Jahre nach dem WM-Titel 2014.
Auch das frühe und unglückliche Ausscheiden im Viertelfinale gegen den späteren Europameister Spanien änderte nichts an der positiven Stimmung im Land und bei den Nationalspielern. "Uns allen macht es Spaß", sagte Kapitän Joshua Kimmich zuletzt nach dem 7:0-Kantersieg gegen Bosnien-Herzegowina. "Man hat gemerkt, dass klare Strukturen und Rollen geschaffen wurden. Jeder hat diese Rollen angenommen, akzeptiert und mit Leben gefüllt."
Auch Nagelsmann resümierte: "Die Nation freut sich wieder auf die Spiele der Nationalmannschaft. Genau diese Freude müssen wir konservieren und Spiele angehen immer mit der Idee zu gewinnen und attraktiven Fußball zu spielen."
Siegermentalität ist zurück im DFB-Team
Der Bundestrainer hat innerhalb von zwölf Monaten einen beeindruckenden Mentalitäts- und Stimmungswechsel herbeigeführt. Durch vermeintlich einfachen, aber attraktiven Offensiv-Fußball, der sich durch aggressives Gegenpressing und eine stabile Abwehr auszeichnet. Gerade einmal neun Gegentore gab es in den 15 Spielen des Jahres 2024. Gleichzeitig wurden 35 eigene Treffer erzielt, auch weil es vorne das Traum-Duo aus Florian Wirtz und Jamal Musiala gibt, das mit Kreativität, Tempo und technischer Finesse jede Defensive vor Probleme stellt.
"Generell will ich, dass wir in den Bus einsteigen und zum Spiel fahren und jeder das Selbstverständnis hat: 'Na klar gewinnen wir heute, wir sind Deutschland, wir sind eine Fußballnation, wir gewinnen'", erklärte Nagelsmann in einem Interview in der Sendung "Blickpunkt Sport".
Nagelsmann nimmt sich nicht so wichtig
Nicht nur die Mannschaft spielt anders als vor einem Jahr, auch Nagelsmann hat bewiesen, dass er an sich arbeiten, sich ändern und einer Situation anpassen kann - wenn es sein muss. Er ordnete seine Spielidee und sein Ego dem Erfolg der Mannschaft unter. Und er wolle diesen Weg weitergehen, die Mannschaft weiterentwickeln und in Zukunft noch weniger ausrechenbar machen.
Im kommenden Jahr möchte Nagelsmann nun seinen ersten Titel mit der DFB-Elf gewinnen, um damit die perfekte Basis zu schaffen, auch bei der WM 2026 erfolgreich zu sein. Ähnlich wie Vorbild Spanien, das 2023 zunächst die Nations League gewann und in diesem Jahr Europameister wurde.
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Ungarn - Deutschland 1:1 (0:0)
Tore: 0:1 Nmecha (76.), 1:1 Szoboszlai (90.+9, Handelfmeter nach Videobeweis)
Zuschauer in Budapest: 60.000