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Der geächtete König

Robin Hartmann3. Dezember 2013

Arthur Friedenreich ist immer noch erfolgreichster Torschütze aller Zeiten. Er veränderte den brasilianischen Fußball entscheidend. Doch die rassistische Gesellschaft der 1920er Jahre duldete keine schwarzen Helden.

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Die undatierte Aufnahme zeigt den deutsch-brasilianischen Fußballer Arthur Friedenreich, auch genannt "El Tigre" (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/EFE

Er wusste, wenn er nur schnell genug rennen würde, könnte ihn niemand mehr stoppen. So oft hatten die Gegner ihm ihre Beine in den Weg gestellt und ihre Ellenbogen in die Brust gerammt, doch er hatte gelernt, sie zu täuschen. Eine Körperdrehung links, eine rechts, den Ball dabei immer am Fuß, unaufhaltsam auf seinem Marsch zum gegenerischen Tor. Dieser Mann, der 27 Jahre zuvor geboren worden war, sollte dafür sorgen, dass wenige Sekunden nach seinem Treffer im Finale der Südamerika-Meisterschaft 1919 gegen Uruguay ein ganzes Land in Fußball-Euphorie erblühte. Dass in Brasilien die Geburtsstunde dessen gefeiert wurde, was wir heute "Jogo Bonito", das schöne Spiel, nennen.

Dieser Mann war Arthur Friedenreich, Sohn eines deutschen Einwanderers und einer Brasilianerin, der in Luz, einem Stadtteil von Sao Paulo, aufwuchs. Mit zehn Jahren fand hier ein Kind den Weg zum Fußball, das sich einmal zum erfolgreichsten Torschützen aller Zeiten entwickeln sollte. Laut Angaben der FIFA schoss Friedendenreich in einem Zeitraum, der sich über drei Jahrzehnte erstreckte, 1329 Tore in 1239 Spielen. Als neunfacher Torschützenkönig mit einem Spitzenwert von 33 Treffern pro Saison dominierte der Stürmer seine Gegner nach Belieben und wurde deshalb schon bald "El Rey de fútbol" genannt - der König des Fußballs.

Die dunkle Seite der Gesellschaft

Doch in einer von schwelendem Rassismus geplagten Gesellschaft als Kind einer schwarzen Wäscherin auf die Welt gekommen zu sein, behaftete ihn mit einem "Makel", der ihn seine gesamte Karriere über verfolgen sollte: Man trug sich allgemein mit der Sorge, das Auftreten nicht-weißer Spieler könne Brasilien einen Ruf als unterentwickeltes Land einhandeln. Deshalb wurde der dunkelhäutige Friedenreich auch nur dank der Beziehungen seines deutschen Vaters 1909 beim SC Germânia aufgenommen, einem Klub für Spieler mit deutscher Herkunft.

Friedenreich (7.v.l.) mit seiner Meistermannschaft 1931(Foto: São Paulo Futebol Clube)
Arthur Friedenreich (7.v.l.) als Spieler des FC Sao Paulo, mit dem er 1931 die brasilianische Meisterschaft gewannBild: Sao Paulo F.C.

Bereits fünf Jahre später war er Nationalspieler, doch auf der ganz großen Bühne sollten er und seine schwarzen Kollegen ihre Herkunft nicht zeigen – man forderte sie auf, sich die Haare zu glätten oder sich gar das Gesicht mit Reismehl zu weißen, damit sie mehr wie "Normalbürger" erschienen. Eine Pein, die Friedenreich wie viele andere über sich ergehen ließ, nur um spielen zu können. Es war unter Schiedsrichtern damals nicht ungewöhnlich, Fouls an schwarzen Spielern nicht zu ahnden, und so wurde der Stürmer zum Ziel zahlloser Attacken, verlor in einem Match gegen den englischen Verein Exeter City sogar zwei Zähne.

In der Staats-Liga von Sao Paulo wurde Friedenreich dagegen gefeiert und "Pé de Ouro", Goldfuss genannt - angeblich hat er in seiner gesamten Karriere nicht einen einzigen Elfmeter verschossen. Zwischen 1918 und 1929 gewann er mit seinem Verein Athletico Paulistano insgesamt sechs Landesmeisterschaften, fegte 1925 bei der ersten Auslandsreise eines brasilianischen Teams überhaupt, mit seiner Mannschaft wie ein Sturm über europäische Teams hinweg. Die französische Fußballnationalmannschaft wurde mit 7:2 überrannt, von neun Partien verlor Paulistano nur eine: Friedenreich erzielte insgesamt elf Treffer. Die Presse erhob ihn zum "Roi des Rois de Futbol", zum König der Könige des Fußballs. Der brasilianische Journalist und Autor Armando Nogueira sagt über ihn: "Er spielte Fußball mit seinem Herzen im Fuß. Er war es, der dem brasilianischen Ball den Weg ins Tor gezeigt hat."

Arthur Friedenreich 1925 beim Spiel Frankreich gegen CA Paulistano (Foto: Reliquias do Futebol / Quelle: Wikipedia)
Bei einer Europa-Tournee schoss Friedenreich (3.v.r.) zahlreiche Tore - auch beim 7:2-Erfolg gegen FrankreichBild: Reliquias do Futebol

Sein wichtigstes Tor aber ist das anfangs beschriebene: Er erzielte es 1919 im Finale der dritten Ausspielung der südamerikanischen Kontinentalmeisterschaften, dem "Campeonato Sudamericano". Im Spiel gegen Uruguay stand es nach 90 Minuten 0:0, eine Verlängerung stand an, viermal 15 Minuten. In der 150. Minute schließlich sah es schon so aus, als müsse die Partie per Münzwurf entschieden werden, doch da kam Friedenreich. Sein 1:0 brachte Brasilien den ersten kontinentalen Titel ein, die tapferen Urugauyer tauften ihn daraufhin ehrfurchtsvoll "El Tigre" (Der Tiger). Ein ganzes Land explodierte im kollektiven Fußballrausch, die Medien traten auf den Plan, Friedenreich schien auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Man empfing ihn und seine Mannschaftskollegen bei der Ankunft in Recife mit Jubelstürmen und stehenden Ovationen, er umgab sich mit der brasilianischen Bohème, ein talentierter junger Mann, der auch Gitarre spielte und sang.

Verstoßen, dann veraltet

Doch nur zwei Jahre später durfte Friedenreich nicht mehr für sein Land antreten. Es war keinem schwarzen Spieler getstattet aufzulaufen - der Präsident von Brasilien höchstselbst, Epitácio Lindolfo da Silva Pessoa, befürchtete aufgrund ihrer Anwesenheit einen Imageschaden für Brasilien. Seine Hautfarbe wurde Friedenreich erneut zur Barriere, einer junger Mann, der zum Spielball der Launen der Mächtigen wurde.

Schon 1922 ließ man Friedenreich nach Protesten wieder mitspielen, und er führte sein Land mit einem 3:0 im Fianle gegen Paraguay erneut zum Titel. 1930 wendeten sich sein Leben und seine Karriere jedoch endgültig: Ihm wurde die Teilnahme an der ersten Fußball-Weltmeisterschaft in Uruguay verwehrt, weil Spieler aus Sao Paulo aufgrund eines Streits zwischen verschiedenen brasilianischen Verbänden für das Turnier nicht zugelassen waren. 1934 war er als mittlerweile 42-Jähriger bereits zu alt für den ganz großen Traum. Am 31. Juli 1935 schließlich zog sich Friedenreich bei Flamengo in Rio de Janeiro leise zurück, nachdem er in seinem Abschiedsspiel mit der brasilianischen Nationalmannschaft noch die argentinische Club-Legende River Plate mit 2:1 besiegt hatte. Zunächst jobbte er danach als Trainer, später dann in einer Brauerei. Am 9. September 1969 starb Arthur Friedenreich an den Folgen seiner Parkinson-Erkrankung.

Noch im selben Jahr wurde zum ersten Mal die "Premio Arthur Friedenreich" verliehen - eine Auszeichnung für herausragende brasilianische Fußballerspieler, die zwischen 1969 und 1975 vergeben wurde. 2008 wurde der Preis wiederbelebt - zweimal ging er seitdem an Neymar Jr., den neuen Helden des brasilianischen Fußballs und des "Jogo Bonito".

Jubel Neymar beim Confed-Cup-Finale 2013 gegen Spanien (Foto: Getty Images)
Heute ist Neymar in Brasiliens Seleção der Spieler für die wichtigen ToreBild: Reuters

Auch seine Art Fußball zu spielen, wird bis heute stark beeinflusst von der Raffinesse und vom Spielwitz von Friedenreich, der als Erfinder des Effet-Schusses gilt und den Bällen als Erster einen scheinbar magischen Drall verlieh. In seiner Heimatstadt erinnert heute noch ein Denkmal an den "Rey del Fútbol". Einer, der ihn an Popularität später weit übertroffen hat und heute als Brasiliens unbestrittener König des Fußball besungen wird, ist Edson Arantes do Nascimento, besser bekann als Pelé. 2008 fand er bewegende Worte für seinen Vorgänger, das vergessene Vorbild aller brasilianischen Kinder: "Mein Vater hat oft von seinen Toren geschwärmt. Arthur war ein ganz großer Spieler in Brasilien."

Und wer weiß, vielleicht wird man sich im nächsten Jahr auch an Arthur Friedenreich erinnern, wenn in Brasilien die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet. An ihn, an seine Tore, an den Effetschuss, die geschickten Körpertäuschungen und den gnadenlosen Torinstinkt. An den deutschen Brasilianer mit dunkler Hautfarbe, der vor fast 100 Jahren dafür sorgte, dass der brasilianische Fußball brasilianisch wurde.