"Der DFB-Elf haben Antreiber gefehlt"
28. Juni 2018Eine schwarze Serie wird gerne zum Fluch erklärt. Erst zweimal überhaupt ist es Fußball-Weltmeistern gelungen, ihre Titel zu verteidigen – und das liegt bereits lange zurück: Italien schaffte es 1938, Brasilien 1962. Seitdem versuchten die Titelträger vergeblich, erneut zu triumphieren. Von den letzten fünf Weltmeistern schieden sogar vier bereits nach der Vorrunde aus (lediglich Brasilien schaffte es 2006 immerhin bis ins Viertelfinale). Deutschland hat sich beim Turnier in Russland nun als blamierter Weltmeister eingereiht.
Eine Gemeinsamkeit gibt es: Offenkundig fällt es den Trainern einer Weltmeister-Nation schwer, WM-Helden nach dem großen Coup auszusortieren. So hielt Frankreich 2002 in Südkorea an Spielern wie Emmanuel Petit, Bixente Lizarazu oder Marcel Desailly fest, damals bereits jenseits der 30 und auch ihres sportlichen Zenits. Ähnliches galt für das italienische Team, das 2010 in Südafrika krachend scheiterte - und erst recht für die spanische Mannschaft, die 2014 in Brasilien in der Vorrunde die Segel strich. Auch im deutschen Team blieben nun einige Weltmeister von 2014 klar unter Form.
Möglicherweise gibt es darüber hinaus jedoch beim vermeintlichen "Fluch des Weltmeisters" auch eine psychologische Komponente. Wir haben bei Prof. Jens Kleinert von der Deutschen Sporthochschule in Köln nachgefragt.
DW: Kann der Erfolgshunger eines Sportlers verkümmern, wenn er schon mal ganz oben war?
Prof. Jens Kleinert: Es ist schon so, dass wir Dinge, die wir schon mal erreicht haben, mit einer anderen Bedeutung belegen, als Dinge, die wir noch nicht erreicht haben. Wenn ich den absoluten Traum habe, Weltmeister zu werden und der ist schon einmal erfüllt worden, dann ist dieser letzte Heißhunger schon mal weg, dieses Feuer. Das sind übrigens auch Worte, die die Spieler im Nachhinein benutzt haben. Ich müsste also meine Motivation verändern.
Eine zweite Sache ist, dass ich, wenn ich etwas schon geschafft habe, vielleicht in einen Verteidigungsmodus hereinkomme. Ich bin ja schon Weltmeister, also muss ich den Titel verteidigen. Das heißt, es kann nur noch schlechter werden. Ich kann eigentlich nur verlieren. Das ist ein Denkmodus, der auf Verlust ausgerichtet ist. Wenn jemand in diesem Modus ist, ist das natürlich mit Ängstlichkeit verbunden, mit Unsicherheit: Ich darf jetzt keine Fehler machen, ich kann ja nur verlieren.
Das heißt also, dass die Angst zu scheitern, bei einem Titelverteidiger größer wird?
Die Wahrscheinlichkeit, dass ich Angst habe, Fehler zu machen und etwas zu verlieren, ist auf jeden Fall größer. Aber es muss nicht zwingend so sein. Man kann im Kopf den Modus verändern, von Verteidigen auf Gewinnen. Dafür muss ich mir neue Ziele setzen. Die Weltmeisterschaft alleine ist dann nicht mehr das ausreichende Ziel.
Kann man also Erfolgshunger trainieren?
(lacht) Man kann Erfolgshunger nicht trainieren, aber man kann trainieren, sich auf die richtigen und wesentlichen Ziele auszurichten. Man könnte sich zum Beispiel das Ziel setzen, mit den neuen, jungen Spielern Weltmeister zu werden. Dann würde die zweite WM eine neue Bedeutung bekommen, weil ich es vielleicht schaffe, diesen neuen Spielern zu ermöglichen, was ich mir schon als Traum erfüllt habe. Ich muss also mein Ziel in der Bedeutung ändern. Und das ist gewissermaßen Trainingssache, weil es im Kopf abläuft.
Die Weltmeister von 2014 wirkten bei den Spielen in Russland wie gelähmt. Spieler wie Toni Kroos, der im Champions-League-Finale noch volle Leistung gebracht hatte, trabten plötzlich daher wie Mitglieder eines Altherren-Teams. Gibt es dafür eine psychologische Erklärung?
Interessanterweise haben ja auch einige Spieler anschließend erklärt, dass das Feuer gefehlt habe, der letzte unbedingte Wille. Das aber jetzt auf den 'Fluch des Weltmeisters' zurückzuführen, wäre zu wenig. Wenn so ein Wille, so ein Feuer in einer Mannschaft fehlt, hat das immer viele Ursachen. Es kann mit der Teamzusammenstellung zu tun haben oder damit, dass die Mannschaft nicht wirklich an die eigenen Fähigkeiten glaubt. Sie hatte ja viele negative Spiele in der Vergangenheit, es fehlten die Erfolgs- und Glückserlebnisse als Mannschaft. Das ist vielleicht auch ein Punkt, warum die Spieler wie gelähmt wirkten: 'Eigentlich müssten wir jetzt unser bestes Spiel bringen, aber wir haben es ja auch in den letzten Monaten schon nicht geschafft.' Das steckt vielleicht in den Köpfen drin.
Viele unterschiedliche Dinge spielen eine Rolle, bis hin zu den Charakteren. Ich kann so ein Feuer von einem Toni Kroos nicht erwarten, weil er einfach nicht der Typ dafür ist. Dann ist es auch unfair zu sagen, er hat sich nicht energisch genug eingesetzt. Er hat so gespielt wie bei Real Madrid, nur hat er dort die richtigen Leute um sich herum. Das ist der Punkt. Die Mannschaft insgesamt muss von den Charakteren her so aufgestellt sein, dass man sich gegenseitig motiviert und antreibt. Es waren zu wenige Spieler dabei, die die anderen mitgerissen haben.
Professor Jens Kleinert beschäftigt sich als Wissenschaftler unter anderem mit Motivations- und Emotionspsychologie sowie mit Team- und Gruppenforschung. Der 53-Jährige leitet das Psychologische Institut an der Deutschen Sporthochschule in Köln.
Das Interview führte Stefan Nestler.