Der Anfang vom Ende der Sowjetunion
13. Januar 2021"Ich hob eine Jacke und einen Schal vom Boden in der Lobby auf, die jemand dort zurückgelassen hatte. Als ich mir den Schal um den Hals legte, war ich überrascht, dass er nass war, und nahm ihn wieder ab. Der Stoff war blutgetränkt." Die Stimme von Nijolė Baužytė zittert noch heute, wenn sie über die Nacht vom 12. auf den 13. Januar 1991 in Vilnius spricht, heute auch als "Vilniusser Blutsonntag" bekannt.
"Um jeden Preis musste ich das Gebäude des Seimas, unseres Parlaments, erreichen und dessen Vorsitzenden Vytautas Landsbergis informieren, was in der von sowjetischen Fallschirmjägern besetzten Rundfunkzentrale geschah", erinnert sie sich.
Unterdessen hatte ganz Litauen die letzten aus dem Studio übertragenen Bilder gesehen. Dort moderierte Eglė Bučelytė eine Sendung, die hauptsächlich aus Nachrichten von Bewohnern der litauischen Hauptstadt bestand: wohin Panzer und Schützenpanzerwagen fahren, wo Schüsse zu hören sind und wo medizinische Hilfe oder Freiwillige benötigt werden. Plötzlich stürmte ein sowjetischer Soldat ins Studio und drehte die Kamera zur Wand. Doch die Übertragung lief noch einige Zeit und schon bald sah die ganze Welt diese Bilder.
Michail Gorbatschows Ultimatum
Baužytė, Bučelytė und andere Mitarbeiter des litauischen Fernsehens waren direkte Zeugen eines der letzten Versuche der schwindenden Sowjetmacht, mit Gewalt den Zusammenbruch der Sowjetunion zu verhindern.
Michail Gorbatschow, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und später Staatspräsident der Sowjetunion, hatte unter dem Motto "Perestroika und Glasnost" (Umbau und Offenheit) versucht, den sowjetischen Sozialismus zu reformieren. Doch gerade dies legte alle Mängel und Widersprüche des Systems offen und führte zu starken Unabhängigkeitsbewegungen, vor allem in den baltischen Republiken Litauen, Lettland und Estland, die 1940 vom damaligen KPdSU-Generalsekretär Josef Stalin annektiert worden waren.
Im März 1990 gewann Sajudis, eine Reformbewegung unter Führung von Vytautas Landsbergis, mit dem ausdrücklichen Ziel der Unabhängigkeit von Moskau die Wahlen zum litauischen Parlament. Am 11. März 1990 kündigte die Republik als erste von 15 ihren Austritt aus der Sowjetunion und die Wiederherstellung ihrer staatlichen Souveränität an. Die sowjetische Führung in Moskau konterte mit einer zehnmonatigen Kraftstoff-Blockade und drohte zunehmend mit militärischer Gewalt.
Allein gegen den Kreml
Zwei Monate zuvor, am 11. Januar, hatte das sowjetische Militär in Litauen begonnen, Verwaltungsgebäude und Kommunikationszentralen zu besetzen. Daraufhin rief der litauische Parlamentsvorsitzende Landsbergis die Bevölkerung auf, auf die Straße zu gehen und das Parlamentsgebäude, die Rundfunkzentrale, den Fernsehturm und die Telefonzentrale zu schützen.
Der sowjetische Offizier Wladimir Tarchanow, Sohn Smolensker Bauern, die in den 1930er Jahren nach Sibirien verbannt worden waren, war der einzige sowjetische Militär in Litauen, der das Vorgehen des Kremls öffentlich verurteilte. Er selbst diente bei einem Rüstungsunternehmen. "Ich wandte mich an die Offiziere und Soldaten und forderte sie auf, die Kasernen nicht zu verlassen", erinnert sich Tarchanow und fügt hinzu: "Ich sagte ihnen, wir hätten einen Eid geleistet, das Land zu verteidigen und nicht gegen Zivilisten zu kämpfen. Ich sprach nicht als Leiter einer militärischen Vertretung, sondern in meinem eigenen Namen als russischer Offizier."
Dem Kreml war offenbar klar, dass allein auf die in Litauen stationierten Einheiten kein Verlass sei. Daher wurden Fallschirmjäger aus dem russischen Pskow und Sondereinsatzkräfte der sowjetischen Staatssicherheit (KGB) nach Vilnius verlegt. Ihre Aufgabe bestand darin, der litauischen Führung das Fernsehen und Radio als wichtigstes Kommunikationsmittel mit der Bevölkerung zu entziehen. Die Besetzung des Fernsehturms in einem Wohngebiet und der Rundfunkzentrale in der Nähe des Stadtzentrums sollte nur der Auftakt zur Erstürmung des Parlaments und der Verhaftung der litauischen Führung sein.
Am Abend des 12. Januar 1991 versammelten sich tausende Menschen um die Rundfunkzentrale und den Fernsehturm. "Als die Besetzung der Gebäude in Vilnius begann, beschloss ich, die Rundfunkzentrale nicht zu verlassen", erinnert sich Nijolė Baužytė und sagt: "Die Mitarbeiter mussten geschützt werden, und nach Möglichkeit die Archive und das Gerät, um weiter senden zu können. Aus den Fenstern des achten Stockwerks der Rundfunkzentrale sahen wir den Fernsehturm, neben dem plötzlich eine Explosion zu hören war, und dann verschwand der Turm in der Dunkelheit." Baužytė sagt, Kollegen hätten befürchtet, der Turm sei gesprengt worden. Doch sie sei sich sicher gewesen, dass dem nicht so war: "Ich habe den Krieg als kleines Mädchen überlebt und mir war klar, dass unsere Techniker das Licht ausgeschaltet haben, um den Soldaten den Beschuss zu erschweren."
"Zum ersten Mal habe ich getötete Menschen gesehen"
Der dänische Journalist Flemming Rose verfolgte die Ereignisse damals aus der obersten Etage des Lietuva Hotels, zu jener Zeit eines der höchsten Gebäude in Vilnius. "Wir konnten sehen, wie sich Militärfahrzeuge durch die Stadt bewegten, und ich nahm ein Taxi zum Fernsehturm", sagt Rose im Gespräch mit der DW und fügt hinzu: "Dort sah ich viele Menschen, viele waren in Angst, einige weinten, denn in diesem Moment war ihnen klar, dass es den Truppen gelungen war, die Absperrungen zu durchbrechen und den Fernsehturm zu besetzen. Dort habe ich zum ersten Mal getötete Menschen gesehen. Sie waren von den Fallschirmjägern erschossen worden. Man hatte sie auf den Hang des Hügels gelegt, auf dem der Fernsehturm steht."
Nijolė Baužytė gelang es unterdessen, aus dem Gebäude des litauischen Rundfunks herauszukommen, wo es keine Toten gab, aber Verletzte. Fremde fuhren sie zum Parlamentsgebäude, doch sie kam nicht hinein. Die Freiwilligen, die mit Stangen, Stöcken und mehreren Jagdgewehren bewaffnet waren, ließen in Erwartung des Angriffs niemanden hinein. "Ich rannte zum nahegelegenen Konservatorium, wo es ein Telefon gab. Ich steckte meine Hand in meine Hosentasche und - oh, Wunder! - ich fand ein Stück Papier mit Landsbergis' Telefonnummer", erinnert sich Baužytė.
Sie rief den Vorsitzenden des Parlaments an und berichtete ihm von der Besetzung der Rundfunkzentrale, und vor allem, dass es dort einen Toten gibt - einen sowjetischen Offizier. "Er wurde von der Straße gebracht. Ich glaube, er wurde von eigenen Kameraden zufällig getroffen. Später berichteten die Kreml-Medien, der Offizier sei von den Verteidigern der Rundfunkzentrale getötet worden. Aber im Gebäude selbst wurde nicht geschossen. Ich sah, wie Soldaten im Innern mehrere Rauchbomben zündeten, um einen Kampf vorzutäuschen und so den Tod des Offiziers zu erklären. Niemand in der Rundfunkzentrale hatte eine Waffe, das schwöre ich!", so Baužytė.
Vorbote des Zusammenbruchs der Sowjetunion
In Moskau hatte niemand mit einer solch tragischen Wendung der Ereignisse gerechnet. Ein Befehl des Kremls, das Parlament zu stürmen, kam nie. Das bewahrte Litauen vor großem Blutvergießen. Weltweit wurde das Vorgehen der sowjetischen Führung verurteilt, und der Chef des Obersten russischen Sowjets, Boris Jelzin, flog noch am selben Tag ins estnische Tallinn.
Dort traf er sich mit den Führern der drei baltischen Republiken, die ihren Austritt aus der Sowjetunion angekündigt hatten. Jelzin sicherte ihnen seine volle Unterstützung zu. Der Versuch, das Vilnius-Szenario in Lettland am 20. Januar zu wiederholen, scheiterte völlig. Doch der Sturm auf das Innenministerium in Riga forderte fünf Todesopfer durch sowjetische Militärkräfte.
Die Beerdigung der 14 Litauer, die am Fernsehturm ihr Leben verloren, die Prozession im Stadtzentrum und der Gottesdienst in der Kathedrale beeindruckte alle, die an diesem Tag in Vilnius waren. Viele erinnern sich daran, wie Loreta Asanavičiūtė, die einzige Frau, die unter den Rädern eines Panzers starb, beigesetzt wurde. Sie lag in einem Sarg in einem weißen Kleid, als wäre sie für die Kommunion oder Hochzeit zurechtgemacht worden. "Hunderttausende Menschen kamen. Da war mir endgültig klar, dass Litauen nicht zu erobern ist", erinnert sich Flemming Rose.
Wladimir Tarchanow bekam unterdessen besorgte Anrufe, denn in der Nachrichtensendung des sowjetischen Fernsehens "Wremja" (Zeit) hieß es, in Litauen gebe es keinen Offizier, der Befehle verweigere. Das sei eine Erfindung der Litauer. "Verwandte und Freunde riefen mich sofort an und fragten, ob ich überhaupt am Leben sei, ob mit mir alles in Ordnung sei. Dann bat ich, im litauischen Parlament sprechen zu dürfen. Ich wurde eingeladen, ging zum Pult und zeigte meinen Ausweis, dass ich wirklich existiere."
Im Dienst blieb Tarchanow jedoch nicht lange. "Ich wurde zum Generalstab gerufen. Dort warteten Korrespondenten, vor denen ich dementieren sollte, was ich gesagt hatte, nach dem Motto, mir sei nicht bewusst gewesen, was ich gesagt habe." Auch dies verweigerte Tarchanow. Sein Vorgesetzter gab ihm daraufhin ein Blatt Papier, auf dem er seinen Rücktritt erklären sollte. Tarchanow wurde schließlich entlassen. Doch schon am 25. Dezember 1991 hörte die Sowjetunion, auf die der Offizier seinen Eid geleistet hatte, offiziell auf zu existieren.
Die Ereignisse im Januar waren Gegenstand zweier Gerichtsverfahren in Litauen. Eines endete mit einer Verurteilung im Jahr 2019. 67 Personen, darunter der ehemalige sowjetische Verteidigungsminister Dmitrij Jasow, und der Kommandeur der Garnison von Vilnius, Wladimir Uschoptschik, wurden wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden und zu verschiedenen Haftstrafen verurteilt. Natürlich in Abwesenheit.
Auch Michail Gorbatschow, der als Zeuge geladen war, erschien nicht vor Gericht. Nur der pensionierte Oberst Jurij Mel, der 2014 während einer privaten Reise in Litauen festgenommen wurde, verbüßte tatsächlich eine Haftstrafe. "Dieser Prozess war nicht nur für Litauen sehr symbolisch. Er war einer der wenigen erfolgreichen Prozesse, die den Kommunismus selbst, seine Ideologie und Praxis verurteilten. Vielleicht ist dies ein künftiges Vorbild für die Russen", sagte Vytautas Landsbergis in einem Telefongespräch mit der DW.
Wladimir Tarchanow erhielt eine der höchsten Auszeichnungen der Republik Litauen. Er und seine Frau sind in Litauen geblieben. Sie leben in einer orthodoxen Gemeinde in der Nähe von Vilnius, wo Tarchanow als Direktor einer Sonntagsschule tätig ist. Fleming Rose ist ein bekannter europäischer Journalist und Kämpfer für Redefreiheit geworden. Als einer der Leiter der Zeitung Jyllands-Posten beschloss er 2005, Cartoons des Propheten Muhammad zu drucken. Von der Al-Qaida wurde Rose in Abwesenheit zum Tode verurteilt.
Nijolė Baužytė ist heute im Ruhestand, lebt in Vilnius und bewahrt bis heute das Buch auf, in dem sich die Mitarbeiter der Rundfunkzentrale bei Arbeitsbeginn und -ende eingetragen hatten: "Es war eine schreckliche und unvergessliche Nacht!", erinnert sie sich. "In meinen Erinnerungen durchlebe ich sie immer wieder aufs Neue."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk