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Politik

Decoding China: Kissinger, der China-Versteher

Dang Yuan
6. Dezember 2023

Die KP-Führung von China trauert um Henry Kissinger. Der Ex-US-Außenminister war ein willkommener Gast in Peking. Bis zuletzt zog er die Fäden für eine Entspannungspolitik zwischen Washington und Peking.

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Henry Kissinger zu Besuch bei Mao Zedong
Henry Kissinger (l.) mit Chinas Premier Zhou Enlai (m.) und Vorsitzendem Mao (r.) 1973 in PekingBild: AP Photo/File/picture alliance

Die Annäherung der USA und der Volksrepublik China Anfang der 1970er Jahre ist einer der großen diplomatischen Wendepunkte des 20. Jahrhunderts. Ihren Anfang nahm sie mit einer Geheimreise. 1971 flog Henry Kissinger, damals nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Nixon, nach Pakistan. Dort wurde er unerwartet krank. Die Regierungsmaschine des pakistanischen Staatspräsident Yahya Khan musste ihn ausfliegen.

Doch statt in den USA landete die Boeing 707 am 9. Juli 1971 unter pakistanischer Flagge auf dem Militärflughafen Nanyuan in Peking. Aus der Maschine stieg Henry Kissinger und erfreute sich bester Gesundheit. Er war gekommen, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu verhandeln. Der Codename der Geheimaktion lautete "Polo", in Anlehnung an Marco Polo, den italienischen Reisenden, der China im 13. Jahrhundert besuchte.

Mitten im Kalten Krieg betrat Kissinger als US-Beamter den Boden des kommunistischen Chinas. Seine Mission: Die Normalisierung der US-chinesischen Beziehungen und die Vorbereitung eines Staatsbesuchs von US-Präsident Richard Nixon. Ziel war es auch, den kommunistischen Block - die Sowjetunion und die Volksrepublik, deren Beziehungen ohnehin angespannt waren - zu spalten, um die US-amerikanische Position im Kalten Krieg zu stärken.

US-Präsident Nixon (m.) sprach 1972 mit Mao (l.) nach intensiven Vorbereitungen durch Henry Kissinger (r.) in Peking
Die Wiederannäherung von China und den USA 1972 veränderte die Geopolitik des 20. JahrhundertsBild: XINHUA/AFP via Getty Images

Türöffner

Durch Kissingers Verhandlungsgeschick nahmen die USA und die Volkspublik China 1972 tatsächlich diplomatische Beziehungen auf. Washington brach mit der Republik China auf Taiwan und erkennt seitdem Peking als die einzige legitime Regierung Chinas an. 

"Henry Kissinger war ein Vertreter der realistischen Schule in der Außenpolitik", erklärt Dr. Susanne Weigelin-Schwiedrzik, emeritierte Sinologieprofessorin an der Universität Wien. "Er hatte keinerlei Werturteile zu den Ländern, mit denen er verhandelte. Das war der drastische Kontrast zum heute in Europa und Amerika verbreiteten wertegetragenen Ansatz in der Außenpolitik." Es ging um Interessen, nicht um Werte.

Kissinger läutete eine diplomatische Zeitenwende mit bis heute nachwirkenden geopolitischen Effekten ein. Nach wie vor ist Taiwan aus Sicht Pekings eine abtrünnige Provinz. Taiwan ist international weitgehend isoliert. Zugleich liefern die USA Waffen und warnen Peking vor jeder Änderung des Status quo. Die Taiwanfrage hat das Potenzial, einen Konflikt zwischen den dominierenden Mächten des Pazifiks auszulösen, mit weitreichenden Folgen weltweit.   

Zeit seines Lebens war Kissinger ein kontroverser Politiker. Er wurde für seine Realpolitik respektiert, aber auch heftig kritisiert. Ungeachtet dessen spielte er stets eine einflussreiche politische Rolle. Mit und ohne Regierungsmandat beriet er zwölf US-Präsidenten. Er kannte alle Staatschefs und Generalsekretäre der Kommunistischen Partei Chinas seit der Gründung der Volksrepublik China 1949 persönlich. Das war der Grundstein seiner engen Verbundenheit und Freundschaft mit China, so Chinas Staatspresse.

Henry Kissinger und Xi Jinping in Peking im Juli 2023
Der 100-jährige Kissinger (l.) mit Chinas Präsident Xi Jinping im Juli 2023 in Peking Bild: China Daily/REUTERS

100 Jahre alt, mehr als 100 Chinareisen

Im Gebäude 5 von Diaoyutai, dem Gästehaus Chinas, traf sich Kissinger im Juli 2023 zuletzt mit Chinas Staatspräsident Xi Jinping. Hier hatte er 1971 die ersten politischen Gespräche mit Chinas Regierungsvertretern geführt. Ein Ort mit viel Symbolkraft. 

Xi betonte: "Sie sind jetzt 100 Jahre alt und waren mehr als 100 Mal in China." Die beiden dreistelligen Zahlen unterstrichen die besondere Bedeutung des Besuchs, sagte Xi. 

Nach dem Tod von Henry Kissinger am Mittwoch schickte Xi ein Kondolenzschreiben an US-Präsident Joe Biden, und zwar im Namen der chinesischen Regierung und des Volks. Überraschend und protokollarisch nicht vorgesehen bekundete er Trauer auch in seinem persönlichen Namen: "Dr. Kissinger ist ein alter und guter Freund des chinesischen Volkes gewesen. Mit seiner scharfen, vorausschauenden und strategischen Weisheit hatte er historische Beiträge für die Normalisierung der Beziehungen zwischen China und den USA geleistet. Seine Entscheidung hat unsere Welt verändert."

Henry Kissinger - Geheimnisse einer Supermacht

Trauer und Würdigung

Auch die staatlich gelenkte Presse würdigte Kissingers Lebenswerk in den höchsten Tönen. "Ewiger Ruhm, Henry Kissinger", "Der Amerikaner, der China am besten kannte, ist gestorben", so die Überschriften.

Kissinger hatte es immer wieder verstanden, die Interessen des kommunistischen Regimes und die Interessen von Vertretern aus Politik und Wirtschaft in den USA zu verknüpfen. Angesichts des seit Jahren angespannten Verhältnisses zwischen Peking und Washington stand Kissinger für Deeskalation, Entspannung und Annäherung. Sein Buch "China: Zwischen Tradition und Herausforderung" ist ein Klassiker für Diplomaten und Politiker, die einen pragmatischen Umgang mit China anstreben. 

Bei seinem letzten Chinabesuch im Sommer sagte er: "Das Schicksal der Menschheit hängt vom friedlichen Miteinander zwischen den USA und China ab. Die breit gefächerten gemeinsamen Interessen sind Grund genug, Konfrontationen zu vermeiden."

Weigelin-Schwiedrzik, die jetzt an der Diplomatischen Akademie in Wien unterrichtet, sagt im DW-Interview: "Kissinger hatte schon sehr früh erkannt, dass es zu einer derartig zugespitzten Auseinandersetzung zwischen China und Amerika kommen könnte, dass ein Krieg fast unvermeidbar erscheint, aber unbedingt vermieden werden muss, weil es einer von zerstörerischer Kraft würde, den wir nie in der Menschheit erlebt haben."

 

"Agent für chinesische Einflüsse"

Mit seinen tiefen Einblicken und zahlreichen politischen Verbindungen war Kissinger nach seiner politischen Karriere ein hoch angesehener Berater für die US-Wirtschaft bei ihren Chinageschäften. Deswegen stand er auch in der Kritik. Der US-Bestsellerautor Issac Stone Fish bezeichnete ihn als "Agenten der chinesischen Einflüsse". Kissinger diene sich den Kommunisten an. Seine Ratschläge entsprächen chinesischen, aber auch seinen persönlichen Interessen. 

"Das ist nicht fair", sagt Weigelin-Schwiedrzik. Die meisten Politiker übernähmen nach ihrer Amtszeit Beratertätigkeiten. Das sei "ethisch vertretbar." "Kissinger hatte einen spezifischen und analytischen Blick auf die Welt. Viele Regierungen und Unternehmen brauchten diesen Input, um ihre Strategie festlegen zu können. Warum er das umsonst machen sollte, ist nicht nachvollziehbar."

Chinesische Dissidenten in Amerika behaupten, Kissinger habe für das chinesische Volk nichts Gutes getan. Er habe de facto durch die Wiederannäherung zwischen den USA und China die Stabilität des kommunistischen Regimes in China gefördert und dieses nie in Frage gestellt. So lehnte Kissinger 1989 nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz Sanktionsmaßnahmen gegen China ab. Damals hatte er schon Geschäftsbeziehungen zu chinesischen Staatsunternehmen aufgebaut. 

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.