Decoding China: Die Gunst der Stunde in Bangladesch
15. August 2024Alifa Chin hat Post zum Internationalen Tag der Kinder 2023 erhalten. Der inzwischen 14-Jährigen in der bangladeschischen Hafenstadt Chittagong hat Chinas Präsident Xi Jinping geschrieben. "Ich wünsche dir viel Erfolg in der Schule. Lebe deine Träume!", schrieb Xi, "wenn du willst, kannst du gerne später in China Medizin studieren, um anderen Menschen zu helfen."
Chin kam 2010 auf einem chinesischen Marineschiff zur Welt. Es war eine schwere Geburt. Ihre Mutter war herzkrank. Sie musste von der Geburtsklinik auf das Lazarettschiff aus China überwiesen werden, das damals einen regulären Stopp vor Bangladesch machte. Nach der gelungenen Not-OP blieben Mutter und Baby wohlauf. Ihr Vater war so begeistert und nannte sein Kind "Chin", das bengalische Wort für das Land "China". Und das Mädchen nennt die Hebamme später "die chinesische Mama". .
Allseitige strategische Partnerschaft
Die Charmeoffensive von Xi soll die Menschen in China und Bangladesch enger verbinden. "China und Bangladesch waren schon immer gute Nachbarn und gute Partner", schrieb Xi in seinem Brief an Chin.
Für China ist Bangladesch von strategischer Bedeutung. Das südasiatische Land liegt im östlichen Teil des Indischen Ozeans. Die geografische Lage passt allzu ideal zur Seidenstraßeninitiative, die Chinas Präsident Xi ins Leben rief. Das weltumspannende Netzwerk mit China im Mittelpunkt bringt den teilnehmenden Ländern mehr Investitionen und soll die internationalen Handelsrouten ausbauen. Die 172 Millionen Menschen in Bangladesch sind für die exportorientierte Wirtschaft Chinas ein Riesenmarkt in direkter Nachbarschaft.
Allerdings sieht Peking auch seine Wettbewerbsnachteile. Bangladesch hat nämlich nur zwei Nachbarländer: das vom Bürgerkrieg geplagte Myanmar, aus dem Hunderttausende der seit langem verfolgten muslimischen Minderheit der Rohingya nach Bangladesch geflohen sind, und die große Regionalmacht Indien, mit dem Bangladesch eine 4.096 Kilometer lange Grenze teilt.
Die Redaktion des chinesischen Außenministeriums auf den Rücktritt der Premierministerin Sheikh Hasina Anfang August und die Bildung der Übergangsregierung in Bangladesch zeigt eine klare Linie. "Wir wollen mit der neuen Regierung in Bangladesch die 'allseitige strategische Partnerschaft' weiterentwickeln", sagte eine Sprecherin letzte Woche. Diese "allseitige strategische Partnerschaft" als diplomatischer Terminus in China impliziert enge und vertrauensvolle Beziehung zu Nationen wie Frankreich, England oder Spanien. Mit Deutschland hat China eine noch bessere "umfassende strategische Partnerschaft".
Waren und Waffen für Dhaka
China ist der größte Handelspartner von Bangladesch seit zwölf Jahren in Folge. "China hat in Bangladesch zwölf Straßen, 21 Brücken und 27 Kraftwerke gebaut", sagte Yao Wen, Chinas Botschafter in der Hauptstadt Dhaka. "Chinesische Unternehmen haben hier 550.000 neue Arbeitsplätze geschaffen."
Derzeit bauen chinesische Firmen zum Beispiel die 48 Kilometer lange vierspurige Stadtautobahn um Dhaka. Die Fertigstellung des 360 Millionen Euro teuren Projekts ist für 2025 geplant. Die sechs Kilometer lange Straßen- und Eisenbahnbrücke über die Padma, den größten Strom Bangladeschs, wurde ebenfalls von China gebaut. Sie ist die längste Brücke Südasiens und beschert dem Land nach lokalen Presseberichten ein Prozent mehr Wachstum im Jahr.
Im Rüstungsbereich liefert China von 2019 bis 2023 an die Sicherheitsbehörden in Bangladesch 72 Prozent der dort benötigten Waffen, berichtet das schwedische Forschungsinstitut SIPRI. Außerdem war China maßgeblich beim Bau des Marinestützpunkts "BNS Sheikh Hasina" südlich von Chittagong im Golf von Bengalen beteiligt. Der Stützpunkt wurde 2023 in Betrieb genommen und bietet Platz für sechs U-Boote und acht Kriegsschiffe. China hatte zwei U-Boote (BNS Nabajatra und BNS Joyjatra, Indienststellung 2017) sowie einen wesentlichen Anteil von Fregatten und Korvetten geliefert. Satellitenbilder zeigen, dass die in China gebauten U-Boote bereits seit einem Jahr dort stationiert sind.
"Chinas Engagements im Stützpunkt gehen möglicherweise weit allein über den Bau hinaus", schreibt die unabhängige US-Denkfabrik CSIS, die auf Rüstungsfragen spezialisiert ist. "Ein hochrangiger Beamter aus Bangladesch bestätigte, dass chinesische Soldaten auch an der Ausbildung beteiligt seien, wie das U-Boot gesteuert und der Stützpunkt betrieben wird. Allerdings sind nur ganz wenige Einzelheiten öffentlich bekannt."
Balanceakt zwischen Indien und China
15 Jahre lang hatte die Ex-Premierministerin Sheikh Hasina in Bangladesch regiert. Sie hatte dabei gelernt, zwischen beiden asiatischen Mächten Balance zu halten. Als zuverlässige Partnerin wollte sie Neu Delhi nicht verärgern. China wollte sie aber auch dazu gewinnen.
Nach ihrer umstrittenen Wiederwahl 2024 besuchte sie zuerst Indien, Wochen später China. Und nach ihrer Ausreise findet sie jetzt Zuflucht wiederum in Indien. Bangladesch ist das erste südasiatische Land, das der Seidenstraßeninitiative offiziell beitrat. Tage vor ihrem Rücktritt infolge der Studentenproteste verkündete sie untermittelbar nach ihrer Chinareise noch, das Milliarden schwere Renaturierungsprojekt des Flusses Tista an indische Firmen vergeben zu wollen, obwohl auch chinesische Firmen an der Ausschreibung teilnahmen. Die Tista entspringt in der Himalaja-Region und fließt zuerst durch Indien, dann Bangladesch.
Die Konkurrenz belebt das Geschäft. Im Ansatz ist die Idee goldrichtig. Allerdings schwindet der Heimvorteil von Indien. In ganz Südasien ist die "India Out Campaign" ("Indien raus"-Kampagne) in vollem Gange, nicht nur in Bangladesch. Insgesamt befindet sich die Region bisher unter starken indischen Einflüssen im Umbruch. Zuletzt hat es in Nepal und Malediven Regierungswechsel gegeben.
In Nepal regiert nun der Kommunist Khadga Prasad Oli mit seiner neuen Regierung seit vier Wochen. Er will mit Chinas Hilfe Straßen in der Himalaja-Bergregion bauen. Oli erntete Lob im eigenen Land, erregte aber Argwohn in Indien. Auf dem Inselstaat Malediven hatte Präsident Mohamed Muizzu schon 2023 mit den Slogan "Indien raus" Wahlkampf gemacht. Nach seiner Amtseinführung im November 2023 forderte er den Rückzug indischer Truppen und wendet sich verstärkt China als Verbündetem zu.
China als "Ausgleichsmacht" in Südasien
Indiens "Nachbarn zuerst"-Politik werde als Gegenmaßnahme zu Chinas Seidenstraßeninitiative gesehen, schreibt Politologin Tasse Walker für die australische Denkfabrik Lowy Institute. "Die enormen Geldsummen, die Peking in Infrastruktur- und Investitionsprojekte steckt, sind für kleinere südasiatische Staaten oft verlockend. In Bangladesch haben China und chinesische Unternehmen schätzungsweise sieben Milliarden US-Dollar investiert, auf Malediven eine Milliarde US-Dollar. Dies hat den geopolitischen Wettbewerb mit Indien angeheizt."
"Eine sich verändernde sozio-politische Landschaft in Südasien in Verbindung mit dem Wirtschaftswachstum kleinerer Staaten in der Region hat potenziell destabilisierende Auswirkungen für Indien", so Walker vom Australia India Institute in Melbourne weiter. In Südasien sei China eine "Ausgleichsmacht" und eine "Gegenhegemonie zu Indien". "Wo Indien die Bedürfnisse kleinerer südasiatischer Staaten nicht erfüllen kann, existiert China als mächtiger, verlockender Akteur, der wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb in der Region schafft. Diese kleineren Staaten sind nicht mehr allein auf Indien angewiesen, sondern können sich auch anderswo nach Auslandsinvestitionen und Handel umsehen. Dies birgt das Potenzial, die Kluft zwischen Indien und China zu vertiefen."
Die 14-jährige Bangladescherin Alifa Chin interessiert die Länderrivalität offenbar noch nicht. Sie ist ein China-Fan. "Um den Erwartungen von Präsident Xi gerecht zu werden, werde ich weiter fleißig lernen. Später will ich in China Medizin studieren und Ärztin werden, um den Bedürftigen zu helfen, so wie es meine chinesische Mama für mich getan hatte", sagt sie der chinesischen Tageszeitung China Daily. Und der Brief von Xi hängt jetzt eingerahmt an der Wand ihres Kinderzimmers in Chittagong als Ansporn.
"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.