Decoding China: Bundeskanzler Scholz auf China-Mission
18. April 2024Dank Olaf Scholz weiß die ganze Welt, in welch idyllischer Gartenlandschaft Staatspräsident Xi Jinping Staatsgäste empfängt. Der Innenbereich des Gästehauses Diaoyutai blieb den allermeisten bisher verborgen. Aber China versteht etwas von Inszenierung. Präsident Xi verbrachte knapp vier Stunden mit dem deutschen Gast: bilaterale Gespräche, öffentlichkeitswirksamer Spaziergang im Garten, gemeinsames Mittagessen mit sieben Gängen (Hummer und Spargel mit Weinbegleitung). Xi zeigte Scholz die klassischen Bauten im chinesischen Baustil: Wan Liu Tang (Vestibül der Zehntausende Hängeweiden) und Zi Yin Ting (Pavillon der selbstlosen Zurückhaltung). Er lobte Scholz dafür, dass er ausgezeichnet mit Stäbchen essen könne.
Das alles sollte die "gute, stabile Entwicklung der bilateralen Beziehungen" mit Deutschland unterstreichen, denn sie gehen "weit über die bilaterale Dimension hinaus", so Xi. "Sie werden nicht nur auf den gesamten eurasischen Kontinent, sondern auf die ganze Welt großen Einfluss ausüben".
Bundeskanzler ein willkommener Gast
China nutzte den Besuch von Bundeskanzler Scholz, um der Welt zu zeigen, dass Peking ein international hoch angesehener Partner unter den Industrienationen ist. China und Deutschland feiern zehn Jahre "umfassende strategische Partnerschaft". Ein diplomatischer Begriff, der die höchste Ebene bilateraler Beziehungen bezeichnet. Vor allem will China mit der aktuell drittgrößten Volkswirtschaft Deutschland die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen ausbauen, auch wegen der Spannungen mit den USA.
Doch die Inszenierung war nicht perfekt. Am Dienstag musste Florian Bauer, Moderator im öffentlich-rechtlichen Dokumentationskanal Phoenix, vor laufender Kamera einräumen, dass die Pressebegegnung mit Bundeskanzler Scholz und Chinas Premier Li Qiang nicht wie geplant live übertragen werden konnte. Das TV-Team in Peking habe vom chinesischen Staatsfernsehen CCTV die Akkreditierung für die Live-Übertragung nicht erhalten.
Als später die Aufzeichnung aus Peking eintraf, wurde, während Bundeskanzler Scholz sprach, der Bildschirm zunächst schwarz. Im Hintergrund hörte man, dass ein Mann in gebrochenem Deutsch sagte: "Es geht um Russland und die Ukraine ...". Dann brach die Übertragung ganz ab. Offensichtlich hatte Peking Schwierigkeiten mit dem Thema, ob technische oder politische, sei dahingestellt.
Kein Interesse an geopolitischen Themen
Für Bundeskanzler Scholz wiederum waren geopolitische Themen wie der Krieg in der Ukraine von höchster Bedeutung. Schließlich reiste er in ein Land, das international viel Einfluss hat und Russland unterstützt. Die globalen Herausforderungen wie den Ukraine-Krieg oder den Nahost-Konflikt werde Deutschland ohne China nicht bewältigen können, sagte Scholz in Peking. "Wir können und sollten sie gemeinsam angehen."
Allerdings zeigte sich der freundliche Gastgeber in Peking von den Forderungen aus dem "Land der Tugend", wie Deutschland in der chinesischen Sprache wörtlich heißt, nicht beeindruckt. Der Wunsch, dass China die "Kerninteressen" Deutschlands verstehe und auf Russland einwirke, spiegelte sich weder in den Stellungnahmen von Präsident Xi Jinping noch denen von Ministerpräsident Li Qiang. Übereinstimmend sprachen beide chinesischen Politiker lediglich von einer "Epoche der Umbrüche und Turbulenzen". Konkreter wurde es nicht. Die Inlandspresse Chinas verlor auch kein Wort über die anstehende Ukraine-Konferenz in der Schweiz.
"China versteht natürlich das große Anliegen von Deutschland und Europa, Russland zu stoppen", sagt Xuewu Gu, Professor und Direktor des Center for Global Studies an der Universität Bonn. Allerdings: "China hat erhebliche Probleme, von seinem Einfluss auf Russland Gebrauch zu machen. Mit dem wichtigsten Partner teilt China zum Beispiel eine 4000 Kilometer lange gemeinsame Grenze. Aber China spürt auch, dass durch den Ukraine-Krieg die Geschäftsaktivitäten chinesischer Unternehmen weltweit beeinträchtigt worden sind. Deswegen bemüht sich Peking hier um einen Balanceakt und Bundeskanzler Scholz um eine Schadensbegrenzung der Berliner 'Chinastrategie'."
In der Chinastrategie vom Juli 2023 hat die Bundesregierung China als "Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen" beschrieben. Ähnliches ist in der EU-Chinastrategie zu lesen. Die Definition hat nicht nur die Politik in Peking, sondern auch viele Unternehmen in China und Deutschland irritiert. Wie können Partner zugleich Rivalen sein? Diese Frage musste der Bundeskanzler beantworten.
Bad in der Menge
Und Scholz machte es souverän. Er zeigte sich in der chinesischen Öffentlichkeit als das Gesicht Deutschlands. Schon vor seiner Abreise ging seine Aktentasche im chinesischen Netz viral, die er auf seinem neu eröffneten TikTok-Kanal zeigte. Später ging er in der 35-Millionen-Metropole Chongqing zu Fuß durch die Stadtmitte. Am Fließband einer deutschen Firma drehte er selbst die letzte Schraube in eine Brennstoffzelle ein und erhielt Beifall. An der Tongji-Universität, die 1907 vom deutschen Arzt Erich Paulun gegründet wurde, sprach Scholz in einem Town Hall Meeting zu Studierenden, die der deutschen Sprache mächtig sind. Dort wurde er unter anderem zur Cannabis-Legalisierung in Deutschland gefragt und gab Tipps: "Nicht rauchen!" Er selbst sei fast 66 und habe noch nie Cannabis geraucht.
"Von wegen langweilig", sagte die Studentin Zhang nach der Begegnung mit Begeisterung, "Bundeskanzler Scholz zeigte im Gespräch mit uns, dass er Humor hat. Und wir lernen Deutschland nicht nur über das Internet und Bücher kennen."
Kein "De-coupling"
Die steigende Beliebtheit von deutschen Premiummarken und Produkten in China nutzte Scholz bei Gesprächen mit der politischen Führung. "De-coupling" sei für Deutschland als Option vom Tisch, sagte er dem Gastgeber. Die als "De-coupling" bezeichnete Entkoppelung von der chinesischen Wirtschaft war vor einigen Jahren als Schlagwort auch in Deutschland diskutiert, aber schnell wieder verworfen worden. Heute lautet das Schlagwort "De-Risking". "Wir wollen den wirtschaftlichen Austausch fortsetzen und auch intensivieren. Unsere Lieferketten sind miteinander verwoben," so Scholz. Aber es gehe auch um Risikomanagement, Diversifizierung und Resilienz.
Angesichts der laufenden Untersuchung der EU-Kommission gegen staatlich subventionierte E-Autos aus China und drohender Schutzzölle befürchten deutsche Autokonzerne mögliche Gegenmaßnahmen durch Peking. Das würde dann zu Gewinneinbußen führen. Jeder vierte Euro Gewinn von allen deutschen Autobauern wurde nämlich in den letzten Jahren in China erzielt.
Bundeskanzler Scholz rief China zu fairem Wettbewerb auf und lobte das deutsche Exportmodell: "Das ideale Wettbewerbsmodell des globalen Handels ist, dass alle miteinander Wettbewerb machen, dass sie nicht unfairen Praktiken in den verschiedenen Ländern begegnen und dass gleichzeitig alle so leistungsfähig sind, dass sie auf allen Märkten bestehen können."
Jetzt dürften sich die deutschen Bauern freuen. China will ab sofort Rindfleischprodukte und Äpfel aus Deutschland importieren. Eine weitere Arbeitsgruppe soll die Bedingungen für den Handel mit Schweinefleisch aus Gebieten prüfen, die nicht von der afrikanischen Schweinepest betroffen sind.
Am Ende blieben schöne Bilder, ein Austausch über die wirtschaftliche Kooperation und das Ausblenden aller politischen Fragen. "Nicht in allen Punkten sind wir einer Meinung", resümierte Scholz im Regierungsflieger auf dem Heimflug, aber "es war wichtig, über alle Fragen zu reden."
"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.