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Zum 200. Todestag des Marquis de Sade

Jochen Kürten1. Dezember 2014

Mit seinen Schriften und seinem Lebenswandel verstörte er die Gesellschaft. Unzweifelhaft hatte er großen Einfluss auf Philosophie und Kunst. Warum das so ist, erzählt de Sade-Biograph Volker Reinhardt im DW-Gespräch.

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Marquis De Sade (Foto: Mary Evans Picture Library)
Bild: picture alliance/Mary Evans Picture Library

Seine Romane und Schriften haben auch über 200 Jahre nach ihrer Entstehung nichts von ihrem Schrecken eingebüßt. Auch das Leben des berühmten Marquis de Sade (1740 – 1814) liest sich mit seinen exzessiven Höhen und Tiefen wie ein kaum auszudenkender Roman. Vor kurzem ist die erste deutschsprachige Biografie dieser wichtigen historischen Gestalt des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erschienen. Der in der Schweiz lehrende Historiker Volker Reinhardt über das Wirken und die bis heute anhaltende Bedeutung des Marquis de Sade.

Deutsche Welle: Was sagt uns der Marquis de Sade heute noch?

Volker Reinhardt: Er provoziert uns und er wird immer provozieren, weil er wahrscheinlich das negativste, Nachtschwärzeste Bild vom Menschen entworfen hat, dass wir eigentlich so nicht akzeptieren können. Und deshalb müssen die Menschen sich mit de Sade auseinandersetzen und auch seine Thesen hinterfragen. Dieses Menschenbild ist so abgrundtief düster, so bar jeglichen Sinns und zugleich so unheimlich und abgrundtief gefährlich, dass es immer für Diskussionsstoff sorgen wird.

Frankreich - Landschaft im Luberon (Foto: Jens Kalaene/picture alliance)
Aus dieser lieblichen Landschaft kam der Marquis: der französischen ProvenceBild: picture-alliance/dpa/Jens Kalaene

Der Mensch ein Produkt der Natur

De Sade schildert uns den Menschen als ein Produkt der Natur - auf derselben Stufe wie Insekten: nicht mehr wert, reine Materie, vergänglich ohne Sinn und Verstand. In die Welt geworfen, in der sich der Mensch nicht zurechtfindet, in der er nicht behaust ist, nicht heimisch wird und zugleich mit einem zutiefst zerstörerischen Trieb ausgestattet, nämlich andere Menschen zu vernichten.

De Sade hat viel geschrieben, Romane und andere Texte, aber er hat auch intensiv gelebt. Beides haben Sie in Ihrer Biografie beschrieben. Ist das eine ohne das andere überhaupt denkbar?

Nein, de Sade sieht sich lebenslang als Menschenforscher, als empirischen Menschen-Kundler, der verschiedene Wege der Forschung und Erkenntnis beschreitet. Er macht Experimente mit lebenden Menschen. Als das nicht mehr möglich ist, oder als dieses Versuchspotential ausgeschöpft ist, auf dem Wege der theoretischen Erkundung und Hinterfragung. Beides gehört zusammen. Vom Selbstverständnis sieht sich de Sade als Erforscher der menschlichen Seele und ihrer Abgründe: Ein bewußtes Forscherleben, allerdings eines der besonderen Art.

Porträt - Volker Reinhardt (Foto: Beck Verlag)
Volker ReinhardtBild: C.H.Beck Verlag

Biografische Spurensuche

Aber Leben und Werk unterscheiden sich auch grundlegend. So wie er geschrieben hat, mit all den drastischen Details, hat er vermutlich nicht gelebt?

Diesem Punkt der Abzweigung nachzuspüren ist ein Hauptzweck meiner Biografie. Es ist die Frage der Fragen, die sich an dieses Leben und an dieses Werk knüpft: Bis zu welchem Punkt gehören sie zusammen? De Sade hat uns dabei erfreulicherweise in seinen Briefen und anderen DokumentenHilfestellung geleistet .

Kurz zusammengefasst sagt er: "Ich bin ein bekennender Wüstling, ein Libertin, ein Freidenker und habe mich von sämtlichen Konventionen und Regeln der Gesellschaft gelöst. Aber ich bin kein Mörder. Ich respektiere das menschliche Leben, obwohl es eigentlich nichts wert ist." Das ist allerdings eine etwas beschönigende Darstellung, denn in einer seiner experimentellen Orgien hat er durchaus mit dem Leben des angemieteten Personals gespielt.

Volker Reinhardt über Marquis de Sade

Kirche als Gegner

Er hat sich am Christentum abgearbeitet, das ist ganz auffällig. Warum?

Eng damit verbunden ist das Ur-Motiv, dass es Gott nicht gibt. Ich glaube, dass ist eine lebenslange Verwundung, eine Kränkung, ein Trauma. Wir können das aufgrund eindeutiger Zeugnisse auf die Kriegserfahrungen des 16/17-jährigen de Sade zurückführen, der sehr tapfer in grausamen Schlachten mitgekämpft und den sinnlosen Tod von tausenden von Menschen erlebt hat. Kurz danach hat er in einem Vernehmungsprotokoll gesagt: "Gott gibt es nicht, ich selbst habe diese Erfahrung gemacht." Er kann sie nur auf dem Schlachtfeld gemacht haben. Das ist ein entscheidendes Motiv, denn so wird die Religion, wie sie von der Kirche gelehrt und praktiziert wird, zu Lüge und Heuchelei.

De Sade ist das Christentum nicht gleichgültig. Er reibt sich an ihm, er muss es auch immer wieder aufs neue schänden. Wenn es ihm gleichgültig wäre, würde er es mit ein paar Sätzen abtun. Aber diese Erfahrung gesucht und nicht gefunden zu haben, ist offenbar lebenslänglich in ihm lebendig.

Marquis De Sade France (Foto: Mono Print)
Frühes Abbild des Marquis de SadeBild: picture-alliance/United Archives/TopFoto

Leben in einer bigotten Gesellschaft

Das andere Motiv ist die grenzenlose Heuchelei einer Gesellschaft, die sich auf Werte beruft, aber das Gegenteil tut. Die sich fromm und human gebärdet, aber in Wirklichkeit das Gegenteil ist. Die zum Beispiel in Kriegen Menschenleben massenweise opfert und eine Justiz hervorgebracht hat, die das menschliche Leben ebenfalls nicht achtet. Also der Widerspruch zwischen einer nicht-lebbaren Religion und einer Gesellschaft, die letztendlich auf Bigotterie und Heuchelei gebaut ist. Das sind prägende Lebenserfahrungen, die auch in sein Werk eingehen.

Über die Aufklärung hinaus

De Sade war ungemein einflussreich. Insbesondere viele Künstler und Literaten, auch Philosophen und Regisseure haben sich mit dem Marquis auseinandergesetzt. Warum? Wirkt das heute noch fort?

Ich glaube diese Provokation wirkt fort. De Sade ist der erste Europäer, um es mit Sigmund Freund zu sagen, der gesagt hat, dass wir nicht "Herr im Haus" sind. Dass also der Verstand keinesfalls die Triebe und Leidenschaften des Menschen beherrschen kann, wie es die Aufklärung gehofft hatte. Insofern ist de Sade auch kein Aufklärer. Er geht weit über die Ideen der Aufklärung hinaus. Er stellt den Optimismus der Aufklärung, dass der Mensch mit Hilfe seines Verstandes ein harmonisches Sozialleben führen kann, in Frage. Der Mensch ist triebgesteuert, instinktbestimmt! Das ist am Ende des 18. Jahrhunderts eine ungewöhnliche, aus der Zeit herausfallende Aussage, die dann von Freud und anderen wiederaufgenommen und mit anderen Methoden ausgeführt wird.

Buch - Volker Reinhardt De Sade oder die Vermessung des Bösen (Foto: Beck Verlag)
Bild: C.H.Beck Verlag

Das vielleicht unheimlichste Potential der Ideen des Marquis de Sade ist, dass er in jedem Menschen diese zerstörerische Kraft verortet, die den Menschen zum Feind des Menschen macht. Im Menschen selbst schlummert ein dunkler Trieb der Zerstörung, der ihm von der Natur aus eingepflanzt ist. Der vielleicht von den Regeln der Gesellschaft zurückgedrängt werden kann, aber bei passender Gelegenheit jederzeit wieder hervorbricht.

Ich glaube, dass haben die totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die Konzentrationslager und die Gulags, in gespenstischer Weise bestätigt.

Das Gespräch führte Jochen Kürten.

Volker Reinhardt: De Sade – Die Vermessung des Bösen, C.H.Beck Verlag 2014, 464 Seiten, ISBN 978 3 406 665158.