Das Privileg einer Wahl
8. Juni 2024Am 9. Juni wird ein neues Europäisches Parlament gewählt. In bewegten Zeiten wie den unseren geht es um viel: Wie gehen wir in Europa mit Menschen um, die zu uns kommen? Wie verhalten wir uns in internationalen Krisen? Wollen wir weiter zusammenwachsen oder stehen nationale Interessen im Vordergrund?
Angesichts dieser Fragen bin ich immer wieder ein Stück überwältigt – im Guten wie im Herausfordernden. Denn einerseits ist es faszinierend, überhaupt die Wahl zu haben. Millionen Menschen auf der ganzen Welt haben diese Möglichkeit nicht und es sind in den vergangenen Jahren immer mehr geworden. Zu entscheiden heißt, Handlungsoptionen für die Zukunft zu haben, das eigene Dasein aktiv gestalten zu können. Genau diese Freiheit birgt aber auch Überforderungspotenzial: Für was entscheide ich mich? Was sind die Konsequenzen? Das kann den eigenen Blick schnell blockieren.
Wie wohl viele andere Menschen auch, stand ich persönlich schon oft vor Richtungsentscheidungen in meinem persönlichen Leben: In welcher Stadt möchte ich leben, in welchem Beruf arbeiten, für welche Hobbys möchte ich mir Zeit nehmen? Jede dieser Entscheidungen hatte und hat Konsequenzen für mich – und damit auch Überforderungspotenzial. Ziehe ich weit weg, wird es schwieriger, soziale Beziehungen am bisherigen Wohnort aufrecht zu erhalten. Es erfordert mehr Arbeit, zum Hörer zu greifen und anzurufen als wenn man sich sowieso auf der Straße trifft. Gleichzeitig kann ein Ortswechsel den Horizont weiten, neue Möglichkeiten eröffnen, im Alltag und im Kopf. Ein weites Feld also mit vielen Alternativen.
Was mir bei diesen Prozessen geholfen hat: Der Blick von oben. Zu oft stecken wir viel zu sehr in uns drin, verkriechen uns in vorgefertigten Handlungsmustern, Traditionen, Erwartungen, den eigenen engen Grenzen. „Das war schon immer so“, „das könnte ich doch gar nicht“, Sätze wie diese hallen in vielen Köpfen nach und nach und nach.
Wenn wir uns jedoch aus der Vogelperspektive betrachten, fällt uns auf: Wir sind klein. Unser Leben ist nicht die Welt, so weit bewegen wir uns oft gar nicht weg, als dass wir nicht zurückkommen könnten. Und dazu: Wir sind nie allein. Da sind Menschen um uns, die uns helfen, die uns unterstützen, die mit uns zusammenhängen. Da ist aber auch ein Gott, der bei uns ist, der jede Freude und jede Last mitträgt. „Ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20) Dieses Versprechen gibt mir Zuversicht und Mut, die Zukunft in die Hand zu nehmen. Gestützt durch die Kraft „von oben“ und die Hände der vielen anderen Menschen haben wir die Freiheit, Verantwortung für uns selbst und unsere Gesellschaft zu übernehmen.
Dieses Eingebundensein hat mich in meinem Leben immer gestärkt. Wenn ich heute durch Deutschland fahre, habe ich an vielen Orten Menschen, mit denen mich unterschiedlichste Erfahrungen verbinden. Die lokale Distanz wird von der persönlichen Nähe übersprungen. Die Weite der Welt ist für mich heute auch eine Nähe der Menschen. Denn an so vielen Orten treffe ich auf Leute, die zwar in ganz anderen Zusammenhängen leben, sich aber ähnliche Fragen stellen wie ich. Sie sind mit mir genauso verbunden wie die Leute in meinem Haus, in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Dazu kommen überall auf der Welt spirituelle Kraftorte, die mich stärken und die Distanzen auf der Welt auf einmal winzig erscheinen lassen.
Diese Gedanken nehme ich mit zu der großen Entscheidung, die wir alle auf dem Wahlzettel machen müssen: Für wen entscheiden wir uns? Wie soll die Zukunft Europas aussehen, welchen Weg schlagen wir ein? Dabei sind wir keine inselhaften Einzelkämpfer, wir sind vielmehr eingebunden in einen Kontinent und in die große eine Welt. Die Entwicklungen und Probleme der Welt sind nicht weit weg, sie sind bei unseren Nachbarn und bei uns. Sie sind auch unsere Probleme und unsere Errungenschaften. Wir können, dürfen und müssen Verantwortung übernehmen – für uns selbst, aber auch für die Menschen um uns herum, in immer weiteren Kreisen! Wer kann guten Gewissens sagen, dass einem das soziale Umfeld wichtig ist, dabei aber den Migranten um die Ecke abschieben wollen? Wer kann guten Gewissens das günstige Handy kaufen, aber gleichzeitig die Lebensbedingungen derjenigen ignorieren, die es herstellen? Wir sind alles kleine Punkte auf der Welt, wir sind miteinander und füreinander da und verantwortlich. Diese Verantwortung in unserer Wahl auszuleben ist nicht nur eine Pflicht, sie ist das Privileg eines geschwisterlichen Zusammenlebens.
Zum Autor:
Christoph Paul Hartmann wurde 1991 geboren. Er studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig und ließ sich anschließend am Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses zum Journalisten ausbilden. Er arbeitet als Journalist, daneben schreibt er unter anderem für die Verkündigung im WDR. 2021 erschien mit "Hemmel on Ähd - Unterhaltsame Spaziergänge durch Düsseldorfs Kultur und Geschichte" (Seume) sein erstes Buch.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.