Das Medikament hilft auch gegen Krebs?
4. Februar 2021Grundsätzlich werden Medikamente mit einem ganz konkreten Ziel entwickelt - etwa um Schmerzen zu lindern, Blutdruck zu senken, Krankheiten zu heilen.
Der Werdegang eines solchen Medikaments ist steinig. 13 Jahre dauert es im Durchschnitt von der Idee bis zur Zulassung. Die meisten Kandidaten schaffen es nicht mal so weit.
Doch trotz des langwierigen Prozesses bleibt am Ende noch ein Überraschungsmoment: Wenn Medikamente, die für einen bestimmten Zweck gedacht waren, später oder in Kombination mit anderen Wirkstoffen, eine andere, unerwartete Wirkung zeigen.
Schnell und günstig: Medikamente recyceln
Genau diesen Effekt wollen Forscher besser nutzen - um gegen nichts Geringeres als gegen Krebs vorzugehen. Medikamentenrepositionierung (Drug Repositioning) ist das Stichwort.
Die Vorteile dieser Vorgehensweise: Die langwierigen Forschungs- und Zulassungsprozesse sind abgeschlossen und die Wirkstoffe wurden als sicher für die medizinische Anwendung befunden. Die Weiterentwicklung bzw. Repositionierung ist schneller, einfacher und günstiger als bei einem komplett neu entwickelten Medikament.
Aus alt mach neu
Vereinzelt gibt es hier auch immer wieder positive Nachrichten zu vermelden. Zum Beispiel haben Forscher des UT Southwestern Simmons Cancer Center 2020 eine Wirkstoffkombination entdeckt, die das Wachstum von Krebszellen stoppen soll. Hierbei soll ein bereits auf dem Markt befindliches Medikament Resistenzen gegen ein vielversprechendes neues Krebsmedikament - das sich derzeit in klinischen Studien befindet - entgegenwirken.
Oder Krebsforscher der University of Bergen in Norwegen hatten über mehrere Jahre Hunderte verschiedene Medikamente getestet, um zu erproben, wie diese Krebszellen beeinflussen. Sie fanden dabei heraus, dass ein Mittel gegen Parasiten wie Bandwürmer und Giardia, die Substanz NTZ (Nitazoxanid) enthält, die wie eine maßgeschneiderte Medizin gegen Prostata- und Darmkrebs wirkt.
"Wir haben entdeckt, dass diese spezifische Substanz den Signalweg in den Krebszellen blockiert und sie dazu bringt, ihr Wachstum zu stoppen", so Karl-Henning Kalland von der Abteilung für Klinische Wissenschaften an der UiB.
Es komme nicht oft vor, dass Forscher eine Substanz entdecken, die so genau auf bestimmte Moleküle abzielt wie diese. Eine Studie von 2018 bestätigte das Ergebnis der Forscher in Hinblick auf Hirntumore (Glioblastoma multiforme) - verwies aber auch auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen.
Gut gepflegte Medikamenten-Bibliothek
Oft fällt es schwer, den Überblick über die aktuelle Forschungslage zu behalten. Genau hier setzen Wissenschaftler des Broad Institute von MIT und Harvard sowie des Dana-Farber Cancer Institute an. Sie haben eine Studie in der Fachzeitschrift Nature Reviews Cancer veröffentlicht - die größte ihrer Art, bei der das Drug Repurposing Hub zum Einsatz kam.
Die Datenbank umfasste 2020 über 6000 bereits existierende Medikamente und Verbindungen, die entweder von der FDA zugelassen sind oder sich in klinischen Studien als sicher erwiesen haben. Die Medikamente sind darin mit ihrer chemischen Struktur, Wirksamkeit und bisherigen Anwendungen aufgeführt.
Mit der Studie haben die Forscher auch zum ersten Mal die gesamte Sammlung - die hauptsächlich aus Nicht-Krebsmedikamenten besteht - auf ihre krebsbekämpfenden Eigenschaften hin systematisch untersucht.
Erfolgreiche Spurensuche
Die Überraschung: Die Forscher fanden fast 50 Wirkstoffe, die eine bisher unerkannte krebsbekämpfende Wirkung haben könnten. Auf dieser Grundlage könnte die Entwicklung neuer Krebsmedikamente beschleunigt oder bestehende Medikamente zur Behandlung von Krebs neu genutzt werden.
"Eigentlich dachten wir, wir könnten uns glücklich schätzen, auch nur eine einzige Verbindung mit krebshemmenden Eigenschaften zu finden. Deshalb waren wir überrascht, so viele zu finden", sagen Todd Golub, Direktor des Krebsprogramms am Broad Institute und Kollegen.
Nicht dem Zufall überlassen
"Wir haben das Drug Repurposing Hub geschaffen, um es Forschern zu ermöglichen, diese Art von zufälligen Entdeckungen auf eine bewusstere Art und Weise zu machen", sagt der Erstautor der Studie, Steven Corsello, Onkologe am Dana-Farber-Institut und Gründer der Medikamenten-Datenbank.
Eine solcher "zufälligen Entdeckungen", auf die Corsello anspielt, war zum Beispiel Acetylsalicylsäure (ASS) - vielen besser bekannt als Wirkstoff in dem Medikament Aspirin - wurde ursprünglich als Schmerzmittel entwickelt. Im Weiteren wurde dann festgestellt, dass die Tabletten wohl auch Herzinfarkt und Schlaganfall vorbeugen können. Doch tut es das wirklich? Mehr dazu im Video.
Auch die Entdeckung von Viagra als Potenzmittel war reiner Zufall: Ursprünglich sollte der Wirkstoff Sildenafil gegen Herzbeschwerden und Bluthochdruck erprobt werden, doch während der Studie stellte sich heraus, dass der Wirkstoff die in ihn gesetzten Hoffnungen enttäuschte.
Nichtsdestotrotz baten viele der männlichen Studienteilnehmer darum, das Präparat nach Ende des Forschungsvorhabens behalten zu dürfen.
Bei ihnen allen hatte sich die Erektionsfähigkeit nämlich drastisch verbessert. Auch beim Bergsteigen soll Viagra übrigens für einen längeren Atem sorgen - bzw. als Prophylaxe oder Therapie der Höhenkrankheit.
Verantwortungsvolles Vorgehen
Doch so amüsant wie dieser Exkurs in die Medikamentenerprobung auch sein mag, es geht auch anders.
2016 verselbstständigte sich die Nachricht, dass bestimmte Chemotherapien besser wirken, wenn sie mit dem Opioid Methadon kombiniert werden. Dies führte bei den Betroffenen und ihren Angehörigen zu hohen Erwartungen an eine antitumorale Wirkung des Mittels.
Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) veröffentlichte daraufhin ein Informationsblatt für Patienten, in dem deutlich zwischen dem "Einsatz von Methadon in der Schmerztherapie von Krebspatienten" und dem "Einsatz als antitumorales Medikament" - also Krebsmedikament - unterschieden wird.
Auch die Deutsche Krebshilfe betonte in einer Stellungnahme, dass "ein Einsatz von Methadon als Krebsmedikament außerhalb von klinischen Studien nicht gerechtfertigt" ist.
Trotz aller Forschungsambitionen, darf auch die Hoffnung, die mit Meldungen wie dieser einhergeht, nicht in den Hintergrund geraten.
Dieser Artikel wurde am 4. Februar 2021 aktualisiert