"Das letzte ungelöste Problem zwischen Deutschland und Frankreich"
27. Februar 2005DW-WORLD: Herr Picaper, 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges veröffentlichen Sie ein Buch über das Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich. Wie kam es dazu?
Jean-Paul Picaper: Ich hatte in Frankreich einen Artikel über den Sohn eines GI's veröffentlicht, der seinen Vater suchte. Damals war ich Deutschland-Korrespondent des "Figaro". Auf diesen Artikel hin bekam ich den Brief eines Franzosen, der Sohn eines deutschen Besatzungssoldaten war und mich fragte: "Wir sind mehrere tausend, wenn nicht mehrere zehntausend Kinder von deutschen Soldaten in Frankreich. Wollen Sie nicht über uns schreiben?" Ich antwortete, wenn es Zehntausende sind, dann ist es kein Artikel, sondern ein Buch. Für dieses Buch fand ich zunächst keinen Verlag. Die Verlage sagten, dies sei ein heikles Thema und werde manche Leute in Verlegenheit bringen. Schließlich fand ich eine Verlegerin, die für das Thema sensibilisiert war: Ihre Tante war das Kind eines deutschen Soldaten.
Wie sind Sie bei ihrer Recherche an die Namen der "Deutschenkinder" gekommen?
Anfangs war dies die größte Schwierigkeit. Dann lernte ich 2002 Ludwig Norz kennen, einen Historiker im Wehrmachtsarchiv in Berlin. Er erzählte, dass das Wehrmachtsarchiv viele Briefe von Franzosen bekommt, die ihren deutschen Vater suchen. So kam es zur Zusammenarbeit zwischen Norz und mir. Das Wehrmachtsarchiv schrieb 30 bis 40 Personen an und fragte, ob sie bereit seien, mit mir zu sprechen. Fast alle haben zugesagt. Ich reiste durch Frankreich und interviewte 15-20 dieser Personen. 15 oder 16 Fälle habe ich in meinem Buch bearbeitet. Ich bin auf Leute gestoßen, die nicht wussten, dass es neben ihnen noch andere solcher Fälle gab und waren erleichtert, davon zu erfahren.
Mehrere Personen in Ihrem Buch bleiben anonym. Warum?
Manche wollten ihre Identität nicht preisgeben, weil sie Angst vor der Öffentlichkeit hatten. Da gab es den Fall einer Mutter, die als vermeintliche Kollaborateurin zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war und nicht wollte, dass die Nachbarn davon erfahren. Sie hatte nichts anderes verbrochen als die Liebe zu einem deutschen Soldaten. Aber so arbeiteten die Gerichte 1944-46 in Frankreich: Das waren keine Prozesse, sondern standrechtliche Verurteilungen, häufig ohne Zeugen und ohne Beweise. Es gab auch den Fall eines höheren Beamten, der seine Stelle bekommen hatte, weil er der Neffe eines prominenten Widerstandkämpfers war. Er fürchtete das Ende seiner Karriere, wenn bekannt würde, dass er der Sohn eines deutschen Besatzungssoldaten ist. Von den 16 Personen, die ich in meinem Buch vorstelle, tragen vier Pseudonyme.
Lesen Sie in Teil 2 über das Schicksal der "Deutschenkinder" und ihrer Mütter
"Wir schätzen die 'Deutschenkinder' auf 200.000"
Die Lebensläufe der "Deutschenkinder" lassen sich an Dramatik kaum überbieten: von der Mutter verlassen, der Familie gemieden und der Gesellschaft geächtet. Sind dies typische Schicksale?
Die Schicksale sind typisch. Leider. Bis Ende der 1950-er Jahre gab es in Frankreich starke anti-deutsche Vorurteile. Nach einem Krieg ist es immer so, dass man sich an den Schwächeren und Unschuldigen rächt. Also traf es die Kinder. Erst mit dem Elysée-Vertrag zwischen De Gaulle und Adenauer wandelte sich nach 1963 die Stimmung.
Erinnerten die "Deutschenkinder" auch daran, dass es in Frankreich nicht nur Widerstand gegen die Besatzer gegeben hatte?
In der Tat. In der Résistance waren keine zwei Prozent der Franzosen. Noch Anfang des Jahres 1945 wird Marschall Pétain, Regierungschef Vichy-Frankreichs, in Paris bejubelt. Trotz Besatzung, Massenerschießungen, Leiden, Hunger.
War die Misshandlung der Kinder ein später Widerstand gegen die Besatzer?
Während der Besatzung gab es Franzosen, die für Vichy waren, andere haben mit den Deutschen kooperiert, manche sogar daran verdient. Das Gros der Franzosen war jedoch völlig passiv. Aber die gaullistische Geschichtsschreibung hat aus den Franzosen Opfer und Helden gemacht. Man hat sich an den Kindern gerächt: in den Familien, in den Dorfgemeinschaften, sogar in den Schulen. Ohnehin war es damals problematisch, ein uneheliches Kind zu sein - zumal das Kind eines Feindes.
Was geschah nach dem Krieg mit den Müttern dieser Kinder?
Manche Mütter, deren Liebschaften mit einem Deutschen bekannt waren, wurden nach dem Krieg durch die Straßen gejagt. Mütter wurden kahl geschoren. Es soll auch Hinrichtungen gegeben haben. Es sind 26.000 Fälle bekannt, in denen Frauen für ihre Liebschaften mit einem Deutschen bestraft wurden. Nach unseren Schätzungen war die Zahl solcher Liebschaften zehn Mal so hoch. Die Zahl der Deutschenkinder schätzen wir auf 200.000.
In ihrem Buch gibt es neben den Biographien einen historischen Teil, in dem Sie die Geschichte der Besatzungszeit rekonstruieren. Die Beziehungen zwischen deutschen Soldaten und Französinnen beschreiben Sie als amouröses Abenteuer. Ist das nicht leichtfertig, wenn man die Folgen dieser Beziehungen bedenkt?
Man wird nie wissen, was die Frauen zur Liebe bewegt hat. Das Prestige der Uniform des Siegers mag eine Rolle gespielt haben. Andere haben sich vielleicht materielle Vorteile erhofft: Die Deutschen hatten Proviant, Zigaretten. Sie haben auch Arbeitsplätze geschaffen. Frauen mit deutsche Freunden waren sehr häufig bei der Wehrmacht angestellt: in Restaurants, Casinos, in der Küche, im Haushalt. Auch im Sanitätswesen. Zu Beziehungen kam es, wo die Deutschen länger stationiert waren: am Atlantikwall, am Ärmelkanal. Fälle von Vergewaltigung oder Nötigung waren in dieser Zeit nicht häufiger als vor dem Krieg.
Lesen Sie in Teil 3 über die Verantwortung des deutschen und des französischen Staats.
"Wir plädieren für die doppelte Staatsbürgerschaft"
Wie war die öffentliche Reaktion auf Ihr Buch in Frankreich?
Die Medien haben das Buch mit einem ungeheuren Enthusiasmus aufgenommen, denn die Frage nach den "Deutschenkindern" war in Frankreich neu. Man hatte über ihre Mütter, die geschorenen Frauen, geschrieben, aber die Kinder hatte man vergessen. Neu an diesem Thema war auch, dass es sich hier um Opfer des Krieges nicht durch Gewalt, sondern durch die Geburt handelte. Unsere Publikation kam gerade im richtigen Augenblick. Diese Kinder sind jetzt über 60 Jahre alt, sie gehen in Rente und haben Zeit, über sich und ihre Herkunft nachzudenken. Vielleicht wäre es vor 15 Jahren noch nicht möglich gewesen, über diese Thema zu sprechen. Aber die Franzosen beginnen, über ihre Geschichte nachzudenken. Es gibt den Wunsch nach einer Geschichtsschreibung, die sachlich ist und ohne Tabus.
Was könnte die Verantwortung der Bundesrepublik sein?
Zunächst einmal: Was ist die Verantwortung des französischen Staats? Der französische Staat hat zu Unrecht die Augen vor der Misshandlung der Kinder verschlossen. Er hätte intervenieren müssen. Dies ist also die Schuld des französischen Staats. Aber auch der deutsche Staat ist schuldig. Spätestens 1949, nach der Staatsgründung der Bundesrepublik, hätte er sich erinnern müssen, dass die Deutschen in Frankreich nicht nur Massaker begangen haben - wie in Oradour sur Glane - sondern dass sie auch Erinnerungen hinterlassen haben - Kinder. Man hätte eine Fonds für diese Kinder einrichten können. Man hätte ihnen helfen können, ihre Väter zu finden. Da ist viel nachzuholen. Wir plädieren dafür, dass sie die doppelte Staatsbürgerschaft tragen dürfen. Diesen Kindern und ihren Kindeskindern sollte man diese Möglichkeit geben.
Wäre dies ein weiterer Schritt in der deutsch-französischen Aussöhnung?
Ja, dies ist vielleicht das letzte ungelöste Problem zwischen Deutschland und Frankreich. Diese Kinder sind nicht von ihren Väter anerkannt worden. Weil sie es nicht konnten: Weil es verboten war. Viele Soldaten wurden zudem versetzt und haben nie von ihren Kindern erfahren. Nachträglich könnten sie aber vom deutschen Staat anerkannt werden. Und das wäre eine sehr schöne Wiedergutmachung.
Jean-Paul Picaper, geboren 1938, ist langjähriger Deutschland-Korrespondent von "Le Monde" und "Le Figaro". Erst ist Autor des Buches "Die Kinder der Schande" gemeinsam mit Co-Autor Ludwig Norz.