Coronavirus: Eine Chance für Deutschlands Gedenkstätten?
18. März 2021"Wir können hier zum Beispiel sehen, dass Polizisten aktiv Kriegsverbrechen begangen haben", erzählt Peter Römer. Hier - das ist in der Villa ten Hompel. Doch Römer führt seine Besucher nicht vor Ort in Münster im Westen Deutschlands durch die Räume der Gedenkstätte. In einer Online-Führung bringt er Menschen den Ort und seine Geschichte nahe.
Römer ruft eine Fotografie auf, die einen Mann in einem Bärenkostüm zeigt. Deutsche Polizisten im Zweiten Weltkrieg hatten ihn gezwungen für die Einsatzkräfte zu tanzen, um ihn im Anschluss daran zu erschießen.
Die Villa der Schreibtischtäter
Solche Aufnahmen gehören zu den Ausstellungsobjekten in der Villa ten Hompel. Sie erinnern an die Verbrechen der sogenannten "Schreibtischtäter", die während des Nationalsozialismus Gräueltaten geplant und in Auftrag gegeben haben.
Mehr als 200.000 Polizisten in ganz Europa wurden aus dem Generalszimmer der "Villa" in Münster befehligt. Darunter viele, die sich an den Verbrechen des Holocaust beteiligten. "Es ist zwar kein Ort an dem Blutvergießen stattgefunden hat", sagt Römer. Aber ein Ort, an dem man relativ schnell verstehen könne, wie die Verbrechen der Nationalsozialisten geplant wurden.
Erinnern an die dunklen Seiten der Geschichte
"Erinnerungskultur" - ein für Deutschland wichtiger Begriff. Er bezeichnet vor allem das öffentliche Erinnern an die dunklen Seiten der eigenen Geschichte – vor allem an die Verbrechen des Nationalsozialismus und den Holocaust. So sollen diese auch im Bewusstsein kommender Generationen erhalten werden.
Gedenkstätten wie die Villa Ten Hompel spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie sollen interessierten Menschen die Geschichte nahe bringen. Aber wie ist das angesichts von Lockdown, Abstandsregeln und Hygienekonzepten überhaupt möglich?
Aus der Not eine Tugend machen
Mit dieser Frage sahen sich Gedenkorte in ganz Deutschland zu Beginn der Corona-Pandemie konfrontiert. "Wir haben relativ schnell festgestellt, dass die klassischen Formate so natürlich nicht umsetzbar und auch nicht zu verantworten waren" erklärt Peter Römer. "Die Kommunikation über soziale Medien und andere Kanäle ist da nochmal wichtiger geworden."
Es wurden verschiedene digitale Konzepte entwickelt: Die Mitarbeiter filmten Videos zu einzelnen Exponaten und veröffentlichten sie auf YouTube, sie erstellten Videocollagen für Instagram und begannen mit Online-Führungen, an denen Interessierte von Zuhause teilnehmen können.
Das Angebot findet eine breite Resonanz: Bei Schülern, aber auch bei Polizisten, die über diese ehemals zentrale Befehlsstelle der NS-Polizei einen besonderen Zugang zu geschichtlichen Zusammenhängen finden.
So erzielten Videos auf YouTube bis zu vierstellige Zugriffszahlen. Zwar wurden digitale Konzepte in der Erinnerungsarbeit auch schon vor der Pandemie genutzt, diese aber sehr stark durch die Lockdown-Situation befördert. "Durch Corona haben wir gelernt, dass viele Menschen Interesse an unserem Ort haben, aber auch, dass wir viele Menschen erreichen können, indem wir selber aktiv werden", sagt Römer.
Von ähnlichen Erfahrungen berichtet Dr. Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Das Konzentrationslager Buchenwald war eines der größten KZs auf deutschem Boden. In ihm wurden insgesamt knapp 280.000 Menschen inhaftiert, von denen geschätzt 56.000 durch die Nationalsozialisten ermordet wurden. Ungefähr 500.000 Menschen besuchten das ehemalige KZ noch 2019. Aber auch hier mussten wegen der Pandemie die Ausstellungen geschlossen und viele Veranstaltungen abgesagt werden. Als Reaktion auf den Lockdown setzte man auch in Buchenwald verstärkt auf digitale Konzepte.
Der Ort bleibt unersetzlich
Zusätzlich zu vielen digitalen Formaten, die die Gedenkstätte bereits vor der Pandemie angeboten hatte, betreibt sie nun beispielsweise auch seit Januar 2021 denOnline-Blog „#Otd1945“("On this day 1945"), in dem sie Tag für Tag den Blick auf einzelne Geschehnisse in dem Konzentrationslager vor 76 Jahren richtet. Weitere Online-Ausstellungen sind geplant. "Wir haben sozusagen aus der Not eine Tugend gemacht", erklärt Wagner der DW. "Die Pandemie war so etwas wie ein Technikbeschleuniger, ein Katalysator, der eine Entwicklung, die ohnehin bereits angestoßen war, noch einmal beschleunigt hat."
Ein großer Vorteil dieser digitalen Formate ist die erhöhte Reichweite. Menschen, denen ein Besuch vor Ort bisher nicht möglich war, zum Beispiel weil sie im Ausland leben, können nun auch das ehemalige KZ Buchenwald "besuchen". Dennoch: Die digitalen Angebote können das echte, physische Erlebnis vor Ort nicht ersetzen, meint Wagner. "Deswegen hoffen wir auch auf das Ende der Pandemie und darauf, dass wir endlich wieder Gäste in den Gedenkstätten betreuen können", sagt er.
Erinnern ist vielstimmig
Manuel Menke, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Kopenhagen, hat zu Formen des digitalen Erinnerns geforscht. Er sieht das Digitale und Analoge nicht als parallele Welten, sondern als etwas, dass sich gegenseitig befruchten könne. "Die Vielstimmigkeit des Erinnerns, die es erlaubt, dass präsente und digitale Konzepte gemischt und kombiniert werden, um damit verschiedene Zielgruppen zu erreichen" - das werde nach der Pandemie bleiben, meint er, "das wird der Komplexität des Erinnerns gerecht".
Ein Beispiel für ein besonders gelungenes digitales Konzept ist für ihn der Twitter Account des Auschwitz Memorial, der über 1,1 Millionen Follower hat und täglich neue Inhalte veröffentlicht, die der historischen Aufklärung und Erinnerung an die Opfer des Holocaust dienen. "Das bringt natürlich so ein schweres Thema auch in den Alltag der Menschen hinein", so Menke. Es stünde nicht zur Debatte, das Analoge abzulösen. Erinnerung finde auf vielen Ebenen statt, und das sei auch notwendig.
Fake History und die Pandemie
Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, sieht die Verlagerung des gesellschaftlichen Diskurses in die digitale Welt aber auch kritisch: "Für mich hat Corona sehr, sehr stark deutlich gemacht, wie schnell ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft absacken kann in eine völlig irreale Parallelwelt und sich mit Fake News, mit Fake History, mit Verschwörungslegenden radikalisieren kann."
Diese Entwicklung sei besorgniserregend, habe aber wiederum auch einen positiven Effekt gehabt, sagt Wagner: "Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (NS) ist durch den Missbrauch der Erinnerung an den NS durch Corona-Leugner sehr viel stärker in der Gesellschaft präsent als das vor Corona der Fall gewesen ist. Das ist nicht das, was die Corona-Leugner sich erhofft haben, aber sie haben dazu beigetragen, dass der wache, der kritische, der aufgeweckte Teil der Gesellschaft sich sensibler mit dem NS und seinen Verbrechen auseinandersetzt als vorher und das ist gut so."
Gedenkstätten, so Wagner weiter, spielten eine zentrale Rolle dabei, dass auch junge Menschen ein kritisches Urteilsvermögen aufbauen. "Denn nur damit können wir verhindern, dass sich antidemokratisches Denken, Verschwörungstheorien, gewissermaßen pandemisch, weltweit verbreiten."