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PolitikEuropa

Corona: Stressfaktor für türkische Häftlinge

Pelin Ünker | Daniel Derya Bellut
17. März 2021

Die türkische Justiz geht kompromisslos mit ihren Gefangenen um - die Corona-Pandemie macht ihre Lage noch schwerer. Besonders Kranke und Journalisten sind mangelhaften Haftbedingungen ausgesetzt.

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Wegen Corona wurden in der Türkei viele Häftlinge entlassen - Journalisten gehörten allerdings nicht dazuBild: Imago Images/S. Boness

Seit über einem Jahr bestimmt die Corona-Pandemie den Alltag der Menschen weltweit – auch in der Türkei. Große Teile der Bevölkerung sind unzufrieden mit dem Krisenmanagement der türkischen Regierung.

Kritisiert werden häufig auch die Zustände in den Gefängnissen: Am 14. April 2020 wurde von der türkischen Regierung entschieden, zahlreiche Gefangene aufgrund der Pandemie vorzeitig zu entlassen.

Laut der Behörde für Gefängnisse und Haftanstalten (CTE) sind es über 78.000 Gefangene gewesen. Alle anderen, denen keine Amnestie gewährt wurde, erleben durch die Corona-bedingten Quarantänemaßnahmen erschwerte Haftbedingungen und Einschränkungen ihrer Rechte.

"Psychologischer Druck nimmt zu"

"Wir erhalten sehr ernsthafte Beschwerden über verschiedenste Verstöße und Missbrauch" sagt die Menschenrechtsaktivistin Berivan Korkut
"Wir erhalten ernsthafte Beschwerden über verschiedenste Verstöße und Missbrauch" sagt Menschenrechtsaktivistin Berivan KorkutBild: privat

"Wir sehen, dass Häftlinge auf den Stationen eingepfercht sind und der psychologische Druck zunimmt. Daher werden zurzeit auch vereinzelt Hungerstreiks durchgeführt", berichtet Berivan Korkut - Koordinatorin der Zivilgesellschaftlichen Vereinigung für Personen im Strafvollzug (CISST).

Erschwerend komme hinzu, dass wegen der Pandemie keine Kontrollen in den Gefängnissen durchgeführt werden könnten - daher seien die Gefängniswärter zurzeit unbeobachtet. "Wir erhalten gravierende Beschwerden über verschiedenste Verstöße und Missbrauch", so Korkut.

Der Leiter der Gefängnis-Kommission des Türkischen Menschenrechtsvereins IHD, Ilhan Öngör, berichtet der DW, dass es auch Anwälten mehrere Monate lang nicht gestattet gewesen sei, ihre Mandanten in den Gefängnissen zu besuchen.

"Auch Familien durften monatelang ihre Angehörigen in Haft nicht sehen (...). Sportliche Aktivitäten und Aufenthalte in der Bibliothek sind auch kaum möglich", so Öngör.

Zweifel an offiziellen Zahlen

Nach Angaben der Gefängnisbehörde CTE gibt es in 55 der 372 türkischen Gefängnisse positive Covid-19-Fälle (Stand: 18. Februar 2021). Insgesamt seien 240 Häftlinge infiziert und seit Beginn der Pandemie 19 Menschen in Haft an Covid-19 gestorben.

Die Zahlen stoßen bei türkischen Nichtregierungsorganisationen jedoch auf Skepsis: Korkut beklagt, dass bei ihr viele Beschwerden darüber eingegangen seien, dass Gefangene, die Symptome von Covid-19 zeigten, nicht getestet worden waren. Zudem gebe es eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Zahlen und den Angaben von Familienangehörigen, Anwälten und Abgeordneten.

"Das Ministerium hat seine Verantwortung nicht erfüllt - das Prinzip der Transparenz gilt nicht", kritisiert Ilhan Öngör. Im April 2020 sei in einem Gefängnis der Schwarzmeerstadt Samsun der erste Häftling an den Folgen einer Covid-Erkrankung gestorben.

Die Nachricht sei jedoch nicht vom türkischen Justizministerium publik gemacht worden, sondern von Angehörigen des Verstorbenen, berichtet Öngör. Auch danach seien Todesfälle vom Justizministerium nicht klar und regelmäßig kommuniziert worden.

Keine Amnestie für Journalisten

Kritisiert wurde die türkische Regierung auch dafür, dass sich unter denjenigen, die aufgrund der Pandemie freigelassen wurden, zahlreiche Gewaltverbrecher befanden, jedoch keine Journalisten oder Oppositionelle. Und vor allem: keine Gefangenen mit Erkrankungen, die durch die Corona-Pandemie eigentlich einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind.

Der türkische Menschenrechtsverein IHD verweist immer wieder darauf, dass sich zahlreiche kranke oder beeinträchtigte Personen im Gefängnis aufhalten - viele hätten sogar schwerwiegende Erkrankungen.

"Es gab viele Beschwerden von Häftlingen, die nach einem Krankenhausaufenthalt im Gefängnis ihre Quarantäne absitzen mussten"m sagt Korkut. Dies sei fast unmöglich.

"Entweder müssen sie mit sehr vielen Häftlingen einen Raum teilen, oder die Bedingungen kommen einer Einzelhaft sehr nahe. Wir haben wiederholt betont, dass die Quarantänebedingungen humaner und erträglicher sein müssen, aber diesbezüglich gibt es keine ernsthaften Schritte", mahnt Korkut.

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Warten auf Impfungen

Laut IHD-Mitarbeiter Öngör wachse auch die Not kranker Häftlinge, da ihre Behandlung häufig wegen Corona unterbrochen worden sei. "Gefangene, die seit bis zu neun Monaten krank in Haft sind, werden nicht ins Krankenhaus eingeliefert und nicht behandelt. Ihre Bedingungen haben sich sehr verschlechtert", so Öngör.

Keine ausreichenden Informationen gibt es laut Öngör außerdem zu der Anzahl von Impfungenn in türkischen Gefängnissen. "Wir wissen, dass in einigen Haftanstalten Gefangene über 65 Jahre und kranke Insassen geimpft werden. Doch das türkische Justizministerium informiert nicht darüber, wie dieser Prozess voranschreitet".

Nichtregierungsorganisationen drängen deshalb seit Monaten auf mehr Transparenz. Darüber hinaus bestehen sie darauf, dass das Erstellen der medizinischen Gutachten beschleunigt wird, um die Vollzugsuntauglichkeit von erkrankten Insassen festzustellen.