1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Corona: Wenn Erfolg gefährlich wird

Anne Höhn
2. Juni 2021

Wenn Maßnahmen zur Prävention von Katastrophen funktionieren, kann das paradoxerweise zum Problem werden: Ausgerechnet Erfolg provoziert manchmal Misstrauen oder sogar Ablehnung in der Gesellschaft.

https://p.dw.com/p/3uKCJ
Deutschland Berlin | Coronavirus | Querdenken-Protest
"Querdenken"-Protest im Oktober 2020Bild: Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance

"Wo sind sie denn, die ganzen Corona-Toten?" 
"Die Intensivbetten sind doch nicht mal zu Hälfte belegt!"
"Ich glaube, dass Medien und Politik übertreiben!"

Aussagen, die man seit einem Jahr auf Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen hört. Ob latentes Misstrauen, offene Ablehnung oder verschwörungsideologische Erzählungen über eine angebliche erfundene Pandemie, unterm Strich basieren sie auf der Annahme: Die Entscheidungsträger in der Politik und Wissenschaft übertreiben, die Maßnahmen sind überzogen, das Virus ist nicht so gefährlich, wie behauptet wird.

Ausgerechnet der Erfolg der Maßnahmen ist Wasser auf die Mühlen ihrer Gegner: "Der Erfolg, nämlich das Ausbleiben von enorm hohen Todeszahlen, von diesen furchtbaren Zuständen wie in Norditalien, Indien oder Brasilien, was etwas sehr Abstraktes ist, weil es hier in Deutschland nicht aufgetreten ist, wird nicht auf die Maßnahmen zurückgeführt, sondern darauf, dass das Virus eigentlich nicht gefährlich ist und es sinnlos war die Maßnahmen zu ergreifen", erklärt Psychologin Dr. Annegret Wolf, die an der Universität Halle forscht.

Deutschland Querdenken-Kundgebung in Hannover
Protest gegen die Corona-Maßnahmen im November 2020 in HannoverBild: Matthey/Fotostand/picture alliance

Das Robert Koch-Institut (RKI) hatte im März prognostiziert, dass die Inzidenz im Mai bei 400 bis 500 liegen würde. Stattdessen lag sie bei unter 100. Die Katastrophe blieb aus - "eben weil wir uns eingeschränkt haben", gibt Wolf zu bedenken, "aber wir verdrehen die Kausalität in unserem Kopf: Wir denken, es ist nichts passiert, weil auch ohne die Maßnahmen alles gut gegangen wäre, weil das Virus eben nicht so gefährlich ist."

Im Modell des RKI waren Verhaltensänderungen, also etwa die Einschränkung von Kontakten, nicht mit einberechnet. Stattdessen wurde prognostiziert, wie sich das Virus ungebremst ausbreiten würde.  
Welche Maßnahmen die Ausbreitung des Virus in Deutschland dann wie stark eingeschränkt haben, ob jede einzelne sinnvoll und angemessen war – darüber sind sich auch Wissenschaftler nicht einig. Statistiker der Ludwig-Maximilians-Universität München etwa bezweifelten zuletzt die unmittelbare Wirkung der politischen Maßnahmen auf das Infektionsgeschehen. Die Corona-Zahlen seien jeweils schon vor Verhängung dieser Maßnahmen gesunken. Das könnte jedoch daran liegen, dass die Menschen im Land sich schon vor "Lockdown light" oder "Bundesnotbremse" selbst stärker einschränkten.

"There is no glory in prevention"

Präventionsmaßnahmen, die erfolgreich greifen, lassen das Problem also kleiner erscheinen als es tatsächlich ist und die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung sinkt. Gleichzeitig stiege dadurch das Misstrauen in diejenigen, die die Maßnahmen zu verantworten haben und die Wissenschaft, so Wolf. Das passiert auch denjenigen, die nicht an Verschwörungserzählungen glauben und die Maßnahmen grundsätzlich für richtig halten. Auch die Impfbereitschaft leidet: Je ungefährlicher das Virus erscheint, desto sinnloser erscheint es, sich eine neuartige Impfung spritzen zu lassen.

Grund für diesen Reflex ist das sogenannte Präventionsparadox. Beschrieben hat es in den 1980er Jahren erstmals der Epidemiologie Jeffrey Rose. Rose stellte fest: Maßnahmen, die der gesamten Bevölkerung viel bringen, bringen dem Einzelnen, vor allem dem mit geringem Risiko, wenig. Heißt, wir alle müssen mitmachen, auch, wenn am Ende vermutlich nur die Hochrisikogruppen etwas davon haben.

BdTD Coronavirus Berlin | Ausgangssperre
Ausgangssperre: Berlin am 28. April 2021Bild: Maja Hitij/Getty Images

Auf Corona übertragen hieß das in den vergangenen Monaten: "Junge Menschen, bleibt daheim für eure Großeltern!", was die allermeisten ja auch taten und damit halfen, die Inzidenz zu drücken.Doch selbst bei hohen Infektionszahlen war die Gefahr für viele nur abstrakt: "Der gesundheitliche Ist-Zustand ist für die Mehrheit der Menschen unverändert geblieben, weil sie nicht direkt vom Virus betroffen waren", erklärt Wolf, "gleichzeitig müssen sie sich an die Maßnahmen halten, keine Freunde treffen, nicht zur Schule gehen, im Homeoffice arbeiten, alles präventiv."

Sich eine potentielle Zukunft vorzustellen, die man jetzt im Moment verhindert, indem man sich an die Regeln hält, fällt Menschen schwer. Das gilt für Corona genauso wie für den Klimawandel: Vielen fällt der aktuelle Verzicht zur Verhinderung einer potentiellen zukünftigen Katastrophe schwer. "There is no glory in prevention". Diese alte Weisheit hatte der vielgefragte Virologe Christian Drosten bereits vor einem Jahr im Podcast mit dem NDR  zitiert. 

Sinkt die Inzidenz, sinkt die Zustimmung zu den Maßnahmen

Noch gibt es keine belastbaren Zahlen dazu, welche Maßnahmen wie genau, oder welche am effizientesten wirken. Hinzu kam, dass Bundes- und Landesregierungen immer Maßnahmen zurücknahmen und die Inzidenz dann wieder stieg.

Hinzu kommt, dass Politiker und Wissenschaftler immer wieder aufs Neue Risiken gegen Nutzen in verschiedenen Bereichen gegeneinander abwägen. Das sei schwer, meint Wolf. Dass einzelne Bundesländer immer wieder im Alleingang Entscheidungen getroffen haben, war dennoch verwirrend.

Als im vergangenen Jahr die ersten Lockerungen kamen, fiel es mir auch zunächst schwerer, noch einen roten Faden zu erkennen. Da ging dann das Flickenteppich-Bingo los - wo darf ich was, wo verlaufen die Grenzen?", erinnert sich Wolf. "Es schien auch, als würde man für das Einhalten der Maßnahmen nicht belohnt, es kam ein Lockdown nach dem anderen, immer wieder wurden diese verlängert, und gefühlt wurde nicht mehr transparent und verständlich erklärt warum."

Kommt die nächste Welle? 

Betrachtet man die Zustimmung zu den Maßnahmen im Zusammenhang mit der Inzidenz fällt auf: Im Dezember 2020, als sich wöchentlich mehr als 149 von 100.000 Einwohnern an Corona infizierten, fanden 53 Prozent der Deutschen die Maßnahmen angemessen. Im Mai 2021 lag diese 7-Tage-Inzidenz unter 100 und nur noch 40 Prozent fanden die  Einschränkungen angemessen.

Ein abnehmendes Bedrohungsgefühl könnte also auch die Zustimmung zu den Maßnahmen verringern. Was sich aber auch merklich verändert habe seit Beginn der Pandemie, gibt Wolf zu bedenken, sei die Stimmung der Menschen im Land, sie seien "mütend - eine Mischung aus müde und wütend." 

Was kann man tun, damit Menschen nicht wegen des Präventionsparadox unvorsichtig werden und eine weitere Welle provozieren? "Das ist schwierig, denn die Gewöhnung an die Angst und an das Virus wird größer", meint Wolf. "Damit die Motivation steigt, sich an Maßnahmen zu halten, müssen bestimmte Faktoren erfüllt sein: Die Bedrohungslage muss als hoch erlebt werden, man muss sich potentiell auch betroffen fühlen, die Erkrankung als schwerwiegend wahrnehmen." Aber permanent Angst zu schüren, sei auch keine Option, sagt Wolf. 

Bundespressekonferenz zum Thema: Die Corona-Lage im Lockdown
Ritual in der Pandemie: RKI-Präsident Lothar Wieler (links) und Gesundheitsminister Jens Spahn informieren über die Corona-LageBild: Janine Schmitz/photothek/imago images

Oft sind es neue Risiken oder solche, die schlagartig viele Menschen töten, die starke Ängste auslösen. Also etwa Terroranschläge oder eben ein neuartiges Virus, das grassiert. Autofahren? Zigaretten-Rauchen? Das sind Risiken, an die sich viele Menschen bereits gewöhnt haben. Eine Entwicklung, die im zweiten Jahr der Pandemie auch hinsichtlich des Coronavirus einsetzen könnte.

Wichtig sei, dass man sieht, wie viel bereits erreicht wurde und man sich seiner kollektiven Verantwortung bewusst sei, denn die meisten Menschen orientierten sich an ihrem sozialen Umfeld, so Wolf. Es helfe also vor allem eins: mit gutem Beispiel vorangehen.