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GesellschaftDeutschland

Wie Corona die Zeitenwende beschleunigt

9. August 2020

Hilfspakete und Homeoffice: COVID-19 hat gezeigt, dass Veränderungen schneller umzusetzen sind als gedacht. Politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich.

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Symbolbild Coronavirus & Mundschutz
Bild: picture-alliance/Fotostand/Schmitt

Corona als moralische Wende und Aufbruch für Veränderungen? Angesichts von Millionen Infizierten, Hunderttausenden Toten, brutaler Rezession und Massenarbeitslosigkeit mag dies deplatziert, ja zynisch klingen.

Doch mehr als ein halbes Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie mehren sich die Stimmen, die COVID-19 auch als Katalysator für Reformen und Veränderungen betrachten. Und für einen mentalen Mauerfall.

Gesundheit um jeden Preis

"Die Pandemie hat gezeigt, dass wir in der Lage sind, ökonomische Erwägungen nicht immer an die erste Stelle zu setzen", sagt der deutsche Philosoph Markus Gabriel. "Wir haben das moralisch Richtige getan und uns für die Gesundheit entschieden, und zwar um beinahe jeden ökonomischen Preis", erklärt er in einem Interview mit der Zeitschrift "Der Spiegel".

Corona als Katalysator für die Abkehr vom Konsumrausch und Kritik an der Globalisierung. Für staatliche Eingriffe und staatliches Krisenmanagement. Für aufgeschobene ethische und moralische Fragen.

Welcher Impfstoff macht das Rennen?

Staatlicher Geldregen

Und für Innovation und Reformen: Denn die Pandemie treibt nicht nur die Digitalisierung voran, sondern auch die internationale Kooperation bei der Suche nach einem Impfstoff. Und sie hat dafür gesorgt, dass der Staat mehr Geld ausgibt: für Europa, für Kultur, für Bildung, für Pflege.

Ende April etwa beschloss das Bundeskabinett eine Erhöhung der Mindestlöhne im Pflegebereich. Die Auszahlung des Pflegebonus beschränkte sich allerdings auf den Bereich der Altenpflege, was gerade unter Krankenpflegern, die COVID-19-Patienten auf Intensivstationen betreuen, große Enttäuschung auslöste.

Dennoch meint der Theologe Johann Hinrich Claussen: "Es ist für mich eine positive Auswirkung dieser schrecklichen Pandemie, dass Erzieherinnen und Erzieher im Kindergarten, Pflegekräfte und Pädagogen eine neue Wertschätzung erfahren." 

Coronavirus Krankenschwester Klinikum Schwerin
Viel Beifall, aber kein Geld: Beim Corona-Bonus gingen Krankenschwestern- und Pfleger leer ausBild: picture-alliance/dpa/J. Büttner

Der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) findet es "ermutigend, dass der Schutz des Lebens in unserer Gesellschaft sehr viel wert ist". Die Menschlichkeit einer Gesellschaft erweise sich auch daran, wie in Krisensituationen mit Kindern und alten Menschen umgegangen werde.

Kulturprogramm statt Abwrackprämie

Besonders beeindruckt zeigte sich Claussen von dem Programm "Neustart Kultur" mit einem Umfang von einer Milliarde Euro: "Es gibt keine Abwrackprämie für Autos, aber Geld für Kunst und Kultur," hält der EKD-Kulturbeauftragte fest. Dies sei ein Zeichen, dass Deutschland sich auch in der Corona-Krise als Kulturnation verstehe.

In der Wirtschaft lösten die Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie einen Digitalisierungsschub aus. Laut einer Umfrage unter knapp 800 deutschen Personalleitern vom renommierten Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung Anfang August wollen die meisten Unternehmen dauerhaft stärker digitale Instrumente wie Online-Konferenzen oder Homeofficeeinsetzen.

Der Ökonom Thomas Straubhaar prophezeit eine "gewaltige Transformation": "In der Post-Corona-Zeit wird die Digitalisierung zur Nachfolgerin der Globalisierung werden," schreibt der Hamburger Wirtschaftsprofessor in einem Gastbeitrag für die Zeitung "Die Welt".

"Homeoffice ersetzt Geschäftsbüro"

"Globale Lieferketten waren zu verletzlich. Nationale Versorgungssicherheit ist zu wichtig. Datenflüsse werden Handelsströme ablösen. Videokonferenzen machen Geschäftsreisen überflüssig. Das Homeoffice ersetzt das Geschäftsbüro", schreibt Straubhaar.

Homeoffice - Arbeitsplatz in der Coronakrise
Stressig, aber dennoch beliebt: Die Coronakrise verhalf dem Homeoffice zum DurchbruchBild: Imago/U. Grabowsky

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil arbeitet bereits an einem Gesetzentwurf, der ein Recht auf Homeoffice festschreiben soll. Der Sozialdemokrat gehört zu denjenigen, die während der Pandemie besonders energisch vorgehen.

Zum Beispiel in der Fleischindustrie. Nach den Infektionswellen in mehreren Fleischfabriken werden nun ab 2021 Werkverträge, bei denen Arbeiter über Subunternehmen tätig werden, in diesem Sektor verboten. Genauso wie der Einsatz von Leiharbeitern.

Corona beschleunigt auch den Wandel in der Energiebranche und beim Klimaschutz. Weder beim 130-Milliarden-Euro schweren Hilfspaket der Bundesregierung noch beim historischen EU-Hilfspaket kamen die Politiker daran vorbei, den Gelder an Klimaschutz zu koppeln.

Deutschland | Rund 400 Corona-Infektionen in Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück
Die Fleischindustrie und das Virus: Für die Fleischindustrie gelten bald strengere Regeln ArbeitsverträgeBild: picture-alliance/dpa/B. Thissen

EU ringt sich zu gemeinsamen Schulden durch

Beim deutschen Hilfspaket lobten Klimaschutzexperten unter anderem den Verzicht auf eine Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotor sowie die Hilfen für den Ausbau der E-Mobilität. Auf EU-Ebene sollen im gemeinsamen Haushalt und beim Corona-Fonds 30 Prozent der Mittel für den Klimaschutz verwendet werden.

Dass die EU erstmals in ihrer Geschichte gemeinsam Schulden an den internationalen Finanzmärkten aufnimmt - eine vor Corona undenkbare Initiative - wird von vielen Seiten kritisch gesehen. Philosoph Markus Gabriel veranlasst es zu vorsichtigem Optimismus: "Wenn ich ein Vertreter von 'Fridays for Future' wäre, würde ich den Regierenden jetzt sagen: Ihr habt in der Pandemie bewiesen, dass alles schnell gehen kann. Es ist deshalb eine politische Lüge zu behaupten, dass wir das Klimaproblem mit demokratischen Mitteln nicht lösen können."