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PolitikEuropa

EU feilscht um Corona-Hilfen

17. Juli 2020

Alles ist umstritten, aber es muss klappen: Präsident Macron gibt sich zuversichtlich, Bundeskanzlerin Merkel als EU-Ratsvorsitzende skeptisch. Über die Chancen des EU-Sondergipfels aus Brüssel Bernd Riegert.

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Belgien  EU Ratsitzung  Treffen EU Rat Brüssel
Bedecke auch deine Nase, scheint Bundeskanzlerin Merkel (li.) dem bulgarischen Premier Borissow zu ratenBild: Reuters/S. Lecocq

Die 27 Staats- und Regierungschefs der EU treffen sich im Konferenzzentrum "Space Egg" in Brüssel zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie wieder persönlich. Allerdings ist fast alles anders als vor Corona. Das Gebäude scheint leer zu sein. Journalisten sind nicht zugelassen. Die Chefs dürfen nur einige wenige Mitarbeiter mitbringen. Das Personal des Europäischen Rates, Beamte, Techniker, Sicherheitskräfte sind auf ein Minimum reduziert.

Der große Konferenzraum im zweiten Stock des Ratsgebäudes fasst bis zu 300 Personen. Bei diesem außergewöhnlichen Sondergipfel, der sich ausschließlich mit dem Haushalt und einem Konjunkturpaket im Gesamtvolumen von 1,8 Billionen Euro befasst, werden nur 50 Personen im Saal sein.

Fast alle Staats- und Regierungschefs tragen beim Gang über den roten Teppich in der Ankunftshalle eine Maske, ausgerechnet der ständige Vorsitzende des Rates, Charles Michel, verzichtet aber darauf. Die derzeitige EU-Ratsvorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, trägt den Mund-Nasenschutz, schreitet aber nicht wie sonst üblich hurtig über den roten Teppich, sondern hält kurz an, späht um eine Gebäudeecke. Erst als der Platz vor der Fernsehkamera von einem anderen Regierungschef verlassen wird, tritt sie vor, um ihr Statement abzugeben. Abstand ist das hier das oberste Gebot.

Merkel mit gemischten Gefühlen

Ob es möglich sein wird auch in den langen Verhandlungsnächten, die jetzt folgen werden, Abstand zu wahren, wird man sehen. Schließlich ist das "physische" Treffen anberaumt worden, damit man in kleiner Runde oder in intensiven Zwiegesprächen Kompromisse schmieden kann. "So richtig streiten kann man sich in Videokonferenzen eben nicht", meint dazu ein EU-Diplomat, der mit der Vorbereitung des Gipfels beschäftigt war.

Sitzungssaal beim EU-Gipfel: Viele Plätze bleiben leer
Viele Plätze bleiben leer im EU-Verhandlungssaal, um Abstand zu wahrenBild: Reuters/F. Lenoir

Angela Merkel, auf der als zeitweiliger Vorsitzenden des Rates der EU und Vertreterin des größten Mitgliedslandes enorme Erwartungen lasten, gibt sich zurückhaltend. "Ich muss sagen, die Unterschiede sind noch sehr groß, und ich kann nicht sagen, ob wir bei diesem Mal schon zu einem Ergebnis kommen. Wünschenswert wäre es."

In den nächsten Tagen stünden "sehr, sehr schwere Verhandlungen" bevor. Der Sondergipfel ist für zwei Tage angesetzt. Er könnte aber bis Montag verlängert werden, heißt es von EU-Diplomaten. Scheitert dieser Versuch, soll ein zweiter Sondergipfel noch im Juli folgen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron, der zusammen mit Merkel einen "Aufbaufonds" für die Wirtschaft nach Corona im Wert von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen hat, gibt sich zuversichtlicher. "Wir müssen einen Kompromiss finden, und ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen", sagt Macron bei seiner Ankunft in Brüssel. Dies sei "die Stunde der Wahrheit für unsere europäischen Ambitionen", so der französische Präsident.

Statement von Bundeskanzlerin Merkel vor EU-Gipfel in Brüssel
Merkel auf markierter Position: "Wir müssen hart arbeiten"Bild: Getty Images/AFP/F. Seco

"Die ganze Welt beobachtet Europa"

Auch die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, legt die Latte hoch. Angesichts der größten Wirtschaftskrise nach der Pandemie, die die EU je erlebt hat, sagte sie: "Das Risiko könnte heute nicht größer sein, aber auch die Möglichkeiten, es steht viel auf dem Spiel." Die Menschen in Europa erwarteten Lösungen, sagte von der Leyen. "Die ganze Welt beobachtet Europa, ob wir in der Lage sind, gemeinsam aufzustehen und die Corona-bedingte Wirtschaftskrise zu überwinden."

Auf dem Tisch im großen Saal liegt zur Stunde die "Verhandlungsbox", die der ständige Präsident der Gipfelrunde, Charles Michel, als ersten Kompromissvorschlag vorgelegt hat. Das Volumen für den gemeinsamen EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre soll bei 1,1 Billionen Euro liegen.

Dazu kommt ein Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro, der erstmals über Schulden finanziert werden soll. Er soll von 2021 bis 2023 zu zwei Dritteln als Zuschuss an die von Corona gebeutelten Mitgliedsstaaten ausgeschüttet werden. Offen ist in der "Verhandlungsbox", wer wie viel Geld nach welchen Kriterien erhalten soll.

Unter den 27 Mitgliedsstaaten haben sich verschiedene Lager gebildet, die für ihre Interessen streiten. Die Kunst besteht für die Vermittlerin Angela Merkel nun darin, das äußert komplexe Interessengeflecht zu entwirren. Die sogenannten "frugalen Vier", die Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich, stellen die Höhe und die  Konstruktion eines Aufbaufonds in Frage. Die "Freunde der Kohäsion", also Staaten die viel Geld aus Agrar- und Strukturfonds empfangen, wollen Kürzungen zugunsten von südlichen Staaten, die besonders unter Corona leiden, verhindern. Die Corona-Opfer wiederum fordern hohe Zuschüsse ohne große Kontrollen.

Infografik EU Aufbaufonds Haushalt DE

Budapest droht

Am Ende muss ein Kompromiss stehen. Das ist allen Teilnehmern klar, denn Haushalt und Aufbaufonds müssen einstimmig verabschiedet werden. Danach muss dann noch das Europäische Parlament zustimmen. Wegen der erstmaligen Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission ist zusätzlich die Ratifizierung in allen 27 Parlamenten der Mitgliedsstaaten nötig.

Da hilft es wenig, wenn ein nationales Parlament, nämlich das ungarische, schon jetzt mit einem Veto droht. Sollte die EU die Verfahren wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit gegen Ungarn nicht einstellen, werde der Haushalt blockiert, droht das Parlament.

Auch andere Staaten haben "rote Linien" definiert. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis stellt die gesamte Konstruktion des Rettungsfonds in Frage. Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte lehnt die von den Niederlanden geforderten Kontrollen für die Verwendung der Gelder rundweg ab.

Der niederländische Premier Rutte (links) bei Kanzlerin Merkel (09.07.2020)
Vorbereitung im Zwiegespräch in Berlin: Niederländischer Premier Rutte bei Kanzlerin Merkel (09.07.2020)Bild: picture-alliance/dpa/ANP

"Wir müssen einfach hart arbeiten", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Auftakt der Sitzung. Sollte übrigens der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass ein Regierungschefin oder eine Regierungschefin wegen einer Corona-Infektion ausscheiden muss, wird der Gipfel nicht abgebrochen.

Das Stimmrecht müsste der Infizierte dann auf einen Kollegen übertragen.Theoretisch könnte zum Beispiel Angela Merkel dem französischen Präsidenten ihre Stimme übertragen. Ein Nachrücken aus der eigenen nationalen Delegation ist nach den Spielregeln des Rates nicht möglich.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union