Chloé Zhao erfindet US-Filmtradition neu
26. April 2021Chloé Zhao hat einen langen Weg zurück gelegt, ehe sie den Olymp der Filmwelt erreichte. Wie bei Fern, der im Van lebenden Nomadin in Zhaos Film "Nomadland" ist auch Zhaos Leben von Fernweh geprägt. Es führte von ihrem Geburtsort Peking über London, New York und die Badlands von Wyoming nach Los Angelest, wo sie heute eine gefragte Regisseurin ist. "Nomadland" gehörte bei der 93. Verleihung der Academy Awards zu den großen Favoriten und bekam gleich drei Oscars (bester Film, beste Regie, beste Hauptdarstellerin).
Zhao lebt in Ojai, einer Stadt in den Topatopa Mountains nordwestlich von L.A. Kein Porträt über sie lässt unerwähnt, dass sie dort mit zwei Hunden und drei Hühnern lebt. Manche erwähnen noch einen Mitbewohner: ihren Partner, den "Nomadland"-Kameramann Joshua James Richards.
Mit "Nomadland" Geschichte schreiben
Aktuell sieht es aus, als sei Chloé Zhao angekommen. Mehr als 40 Auszeichnungen hat "Nomadland" bereits erhalten und Zhao lag auch bei den Wettbüros ganz vorne, als es um die Oscar-Kategorien "Bester Film" und "Beste Regie" ging. Mit diesen Trophäen hat sie nun Geschichte geschrieben, denn Zhao ist die erste Asiatin, die in beiden Sparten gewinnt. Die Golden Globes und Bafta Awards stehen jeweils schon in ihrem Regal.
Nach den viermonatigen Dreharbeiten hat Zhao jüngst mit der Verfilmung des 200 Millionen Dollar (166 Millionen Euro) teuren Marvel-Superheldenfilms "The Eternals" begonnen. Sie dirigiert hier ein Staraufgebot um Angelina Jolie und Kumail Nanjiani. Berichten zufolge soll der erste LGBTQ-Charakter in Marvels Kinouniversum seinen Auftritt haben.
"Nomadland" ist ein ergreifendes Porträt der neuen amerikanischen Unterschicht: ältere, umher reisende Arbeiter, die in ihren Wohnmobilen leben und im ganzen Land Saisonjobs annehmen - einige, weil sie es so wollen, andere um zu überleben. Vor dem Hintergrund dieses ergreifenden Porträts fragt man sich, wie Zhaos Interpretation des Superheldenfilms wohl aussehen wird. Mit ziemlicher Sicherheit wird Zhao überraschen und eine neue Perspektive auf ein überstrapaziertes Filmgenre finden.
Vom wahren Leben inspiriert
Das ist es, was sie immer getan hat. Ihr Debüt "Songs My Brothers Taught Me" von 2015 und der Nachfolger "The Rider" von 2017 - beide erzähle die Geschichten von Lakota-Sioux-Jugendlichen, die im Pine Ridge Indianerreservat in South Dakota leben - warfen ein neues Licht auf den Western.
In "Nomadland" frischte Zhao die visuelle Sprache des amerikanischen Road Movies auf und blieb dennoch der filmischen Mythologie Hollywoods treu. Zhaos Herangehensweise als Regisseurin verbindet die Detail-Versessenheit einer Insiderin mit dem unverbrauchten Blick und der unendlichen Neugier einer Außenseiterin.
Um ihre ersten drei Filme zu drehen, tauchte Zhao in die Gemeinschaften ein, die sie darstellte. Vor "Nomadland", in dem die zweifache Oscar-Preisträgerin Frances McDormand als Fern und der Schauspieler David Strathairn als Mitreisender zu sehen sind, besetzte die Regisseurin in ihren Filmen nur Laiendarsteller. Sie formte ihre Geschichten um reale Menschen herum.
Zhao entdeckte John Reddy, den Hauptdarsteller von "Songs My Brothers Taught Me", in einem Jahrbuch der Pine Ridge Schule und besetzte ihn in der Rolle des Teenagers, der davon träumt, das Reservat zu verlassen. Als Brady Jandreau, ein Lakota-Cowboy, den Zhao während der Dreharbeiten kennengelernt hatte, nach einem verheerenden Sturz fast tödlich verletzt wurde, besetzte sie ihn in "The Rider" und erzählte die Geschichte eines verletzten Rodeo-Stars.
Wie eine Journalistin
"Sie ist im Grunde wie eine Journalistin", sagte McDormand dem "Rolling Stone" in einem Interview über Zhaos Arbeitsweise. "Sie lernt deine Geschichte kennen und erschafft daraus einen Charakter." Intimität ist für Zhao kein Grund für Rührseligkeit. Ihre Filme zeigen Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, aber frei sind von Mitleid oder verklärender Romantik.
Das unterscheidet Zhaos Porträts des amerikanischen Westens von denen der Euro-Romantiker wie Wim Wenders oder Michelangelo Antonioni, die sich zwar in die großen Landschaften verliebten, sich aber nicht die Zeit nahmen, die realen Menschen genauer zu betrachten. Zhaos Filme sind streng, nicht aufgesetzt. Visuell sind sie lyrisch und oft atemberaubend schön.
Kritiker verglichen ihre Aufnahmen mit der goldenen oder auch magischen Stunde, in der Terrence Malick bevorzugt dreht: ein kurzes Zeitfenster am Morgen und Abend, in dem sich das Sonnenlicht verändert und eine besondere Atmosphäre schafft. In einem Porträt in der "Vogue" von 2018 äußerte sich eine Filmprofessorin an der New York University bewundernd über ihre Ex-Schülerin Zhao: "Chloé hat ein sehr warmes Herz, aber ein extrem kaltes Auge."
Gegen Ende von Nomadland rahmt Zhao ihre Protagonistin Fern ikonisch ein, inspiriert von einer Einstellung John Waynes in dem Klassiker "Der schwarze Falke" von 1956. Es ist ein kühnes und unglaublich effektives Bild, das eine Frau um die 60, die für den Mindestlohn in Teilzeitjobs in Amazon-Packzentren und auf Campingplätzen in der Wüste arbeitet, auf Augenhöhe mit dem berühmtesten Cowboy der Filmgeschichte stellt.
Deutsche Adaption: Torsten Landsberg