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PolitikGlobal

Chiles Regierung taumelt

Diego Zuniga
23. Juli 2020

Zur sozialen Krise und zur Corona-Krise gesellt sich nun eine politische Krise. Die konservative Regierungskoalition unter Präsident Piñera steht vor dem Ende. Und damit auch das chilenische Modell?

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Chile Coronavirus Präsident Sebastian Pinera
Bild: picture-alliance/dpa/S. B. Gaete

Die politische Stimmung in Chile ist aufgeladen. Gerade hat das Parlament einer umstrittenen Reform zugestimmt, die es den Bürgern erlaubt, zehn Prozent ihrer Pensionseinlagen als Corona-Hilfe ausgezahlt zu bekommen. Eine empfindliche Niederlage für die rechtskonservative Regierung von Sebastián Piñera, die das von der Pinochet-Diktatur geerbte private Rentensystem nicht antasten wollte. Der Präsident steht mit dem Rücken zur Wand: die Corona-Krise, massive Proteste gegen das neoliberale System, Spannungen innerhalb der Regierungskoalition Chile Vamos, all das hat zu einem dramatischen Verlust an Popularität geführt. Die Zustimmung zu Piñera war zuletzt auf 6 Prozent geschrumpft, 81 Prozent bescheinigten der Regierung ein schlechtes und sehr schlechtes Krisenmanagement.

Der Anthropologe Pablo Ortúzar, einer der neuen Intellektuellen der Rechten, sagte kürzlich in einem Radiointerview: "Ich bin mir nicht sicher, ob Piñera seine Amtszeit zu Ende bringen kann. Der Präsident ist einsam und politisch isoliert während um ihn herum die staatlichen Strukturen zusammenbrechen".

Nicht ganz so extrem, aber ebenfalls wenig optimistisch äußern sich andere Vertreter des rechten politischen Spektrums. In einem Interview mit dem chilenischen Wochenmagazin The Clinic, versicherte der Politologe Daniel Mansuy, dass der aktuelle Prozess einer Verfassungsreform, die Krise des Rentensystems und das mögliche Auseinanderbrechen der rechten Regierungskoalition, Piñera zum "Totengräber des chilenischen Präsidialsystems" machen könnte. Was im Oktober vergangenen Jahres als Protest gegen die Fahrpreiserhöhung der U-Bahn in der Hauptstadt Santiago begann hatte sich innerhalb weniger Tage zu landesweiten Massenprotesten gegen niedrige Löhne, hohe Kosten für Bildung und Gesundheit sowie die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ausgeweitet. Als Antwort auf die Proteste kündigte Präsident Piñera für April ein Verfassungsreferendum an. Wegen der Coronapandemie ist es auf Oktober verschoben worden. Massive Polizeigewalt gegen die Demonstranten, Kabinettsumbildungen, halbherzige soziale Reformen, dann der Rücktritt des augenscheinlich überforderten Gesundheitsministers: Piñera steht einer überforderten und hilflosen Regierung vor. Der Analyst Patricio Navia schrieb in El Líbero, es sei "ziemlich offensichtlich, dass die chilenische Rechte, wie wir sie kannten, tot ist" und dass die Regierung die "Orientierung verloren" habe.

Ein Demonstratin hält ein Schild mit der Aufschrift "No + AFP". Die Abschaffun des privaten Rentensystems ist einer der zentralen Forderungen der sozialen Protestbewegung in Chile.
"Schluss mit dem privaten Rentensystem" lautete eine der Kernforderungen der sozialen Protestbewegung. Bild: picture-alliance/dpa/E. Gonzalez

Wenige Alternativen

Während die Regierung taumelt, präsentiert sich die Opposition mindestens genauso hilflos. Der Journalist und politische Kommentator Ascanio Cavallo beschreibt es so: "Die Regierungskoalition Chile Vamos ist genauso zersplittert und regierungsunfähig wie die Opposition. Deswegen mangelt es derzeit an Alternativen.“ Aber ist das wirklich so?

"Der Präsident steht in der Tat unter erheblichem Druck. Die Regierung ist weder für die Corona-Krise noch für die soziale Krise des vergangenen Jahres verantwortlich. 24 der letzten 30 Jahre wurde Chile von einem Mitte-Links-Bündnis regiert", sagt Andreas Klein, Politikwissenschaftler und Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Chile im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Für den Experten würde ein möglicher Abgang von Piñera "nicht automatisch bedeuten, dass die Linke die Neuwahlen gewinnen würde". Seiner Meinung nach geht es jetzt darum, Lösungen innerhalb des bestehenden Systems zu finden. „Ich glaube, dass Präsident Piñera sein Mandat beenden wird und dass dies auch aus demokratischer Sicht richtig ist", sagt er. Das große Problem der chilenischen Politik sei heute ihre Zersplitterung. Es gäbe keine großen kompakten Blöcke mehr, sondern atomisierte Sektoren, die unter bestimmten Umständen Vereinbarungen anstrebten.

Chile Coronavirus Präsident Sebastian Pinera
Blickt entschlossen - allerdings in eine ungewisse Zukunft: Chiles Präsident Sebastian PiñeraBild: picture-alliance/dpa/S. Rodriguez

"Das Problem der Opposition in Chile hat mehrere Ebenen. Eine davon ist generationsbedingt. Dann gibt es eine Gruppe, die die Übergangsregelungen nach der Diktatur ablehnt, und eine andere Gruppe, die sie als Regierungskonsens betrachtet“, erklärt Mario Álvarez, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Leeds, im Gespräch mit der DW. Auch 30 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur gilt die von Diktator Pinochet eingesetzte Verfassung. Zwar konnten durch einige Reformen manche Relikte aus der Zeit der Diktatur beseitigt werden, wie zum Beispiel das binominale Wahlrecht, das kleineren Parteien praktisch den Einzug ins Parlament verwehrte. Das neoliberale Wirtschaftssystem ist von keiner der demokratisch gewählten Regierungen seit 1990 grundlegend verändert worden. In Chile ist nach dem Prinzip "mehr Markt, weniger Staat“ fast die gesamte öffentliche Versorgung privatisiert: das Gesundheits- und Bildungswesen, das Rentensystem, aber auch die Wasserversorgung. Das Militär schweigt bis heute zu den Menschenrechtsverbrechen und verweigert jeglichen Beitrag zur Aufklärung.

Die Zersplitterung der Opposition gehe aber noch weiter, so Álvarez: "Dann gibt es noch diejenigen, die politischen Institutionen wie Parteien oder Gewerkschaften schätzen und diejenigen, die sie als bloße Instrumente sehen, um die Energie des sozialen Wandels zu ersticken.“ Er kommt zu dem Schluss: "Keine dieser Strömungen innerhalb der Opposition konnte sich durchsetzen. Es wäre zu hoffen, dass der Prozess der Verfassungsreform sie zu einem Dialog zwingt, aber das bleibt abzuwarten".

Chilenisches Parlament leitet Verfahren zu neuer Verfassung ein
Das chilenische Parlament hat das Verfassungsreferendum mit großer Mehrheit beschlossen.Bild: picture-alliance/dpa/Agencia Uno/L. Rubilar

Flüchtige Einigkeit

Die Opposition hat bei der Abstimmung über die Auszahlung von zehn Prozent aus der Rentenkasse einen seltenen Sieg gegenüber der Regierung errungen. Doch kann dieser Konsens von Dauer sein? Andreas Klein ist skeptisch: "Chile steht vor großen Herausforderungen. Es muss die Corona-Krise überwinden. Die Wirtschaft muss wieder angekurbelt werden. Im kommenden Jahr stehen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Und eine neue Verfassung muss ausgearbeitet werden. Es ist an der Zeit, das Denken in traditionellen Blöcken aufzubrechen und die politische Mitte zu stärken, die wirtschaftliche Erfahrung mit sozialer Verantwortung verbindet". Das Referendum über Änderungen an der Verfassung ist eine der zentralen Forderungen der Massenproteste der vergangenen Monate.

Álvarez seinerseits warnt vor dem Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen: "Piñera hat aufgehört zu regieren. Er ist zwar noch im Amt, aber er regiert nicht. Das Problem dabei ist, dass die Institutionen ihre Legitimität unter anderem ihrer Effektivität verdanken. Wenn sich die Demokratie bei der Lösung der Alltagsprobleme der Menschen nicht als minimal effektiv erweist, ist ihre Existenz gefährdet", sagt er.