Kulturhauptstädte mit bewegender Geschichte
2. Januar 2025Es ist eine der größten Portraitbüsten der Welt und das wohl bekannteste Wahrzeichen der Stadt Chemnitz: das Karl-Marx-Monument. Ein riesiger Kopf des Philosophen und Gesellschaftstheoretikers ziert seit 1971 die Innenstadt. Ursprünglich war eine elf Meter hohe Ganzkörperskulptur vorgesehen, aber die Idee wurde dann doch schnell verworfen. "Karl Marx braucht keine Beine, keine Hände, sein Kopf sagt alles", soll der sowjetische Bildhauer Lew Kerbel gesagt - und einen 40 Tonnen schweren Schädel gegossen haben. Und so nannten die Chemnitzer den Ort um Marx' Riesenkopf fortan umgangssprachlich "Schädelstätte".
Aber was hat Karl Marx mit Chemnitz zu tun? Nun, persönlich nicht viel. Er ist in Trier geboren und in London gestorben. Also ziemlich weit im Westen. Der Stadt Chemnitz, die im geteilten Deutschland in der DDR lag, hatte er nie einen Besuch abgestattet. Doch für die SED-Regierung war die biographische Verbundenheit des großen Denkers mit der Stadt keine relevante Voraussetzung für die Namensgebung - und so benannte die kommunistische Führung Chemnitz in Karl-Marx-Stadt um. Otto Grotewohl, Ministerpräsident der DDR, begründete dies mit der starken Tradition der Arbeiterbewegung. Die Stadt war in den Augen des damaligen Regimes ein sozialistisches Musterbeispiel.
In der Tat war Chemnitz, gelegen im Osten Deutschlands an der Grenze zu Tschechien, eine führende Industrie- und Arbeiterstadt - schon lange vor der Gründung der DDR. Textil-, Maschinenbau-, Eisenbahn- und Automobilindustrie waren bereits im 18. und 19. Jahrhundert starke Industriezweige. Der Bergbau im Erzgebirge machte die Region zudem zur wirtschaftlichen Hochburg. Nicht ohne Grund wurde Chemnitz auch im Volksmund - nach der englischen Industriemetropole - das "sächsische Manchester" genannt.
Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im Osten Europas erfuhr Karl-Marx-Stadt nicht nur einen Struktur-, sondern auch einen Namenswandel. In einer Abstimmung entschieden sich 76 Prozent der Einwohner für den alten Namen. Chemnitz kommt aus dem Sorbischen und heißt übersetzt so viel wie "Stein" - in Anspielung auf die Bergbauregion um Chemnitz herum.
Im Gegensatz zu Leipzig, Dresden und (Ost-)Berlin hat Chemnitz nach der Wende in Bezug auf Ruhm und Popularität eher ein Schattendasein geführt. 2018 geriet die Stadt jedoch in die überregionale Presse. Nach dem gewaltsamen Tod eines Deutsch-Kubaners entstanden spontane Bürgerproteste gegen Rassismus und Gewalt auf der einen Seite und fremdenfeindliche Aufmärsche von Pediga und anderen rechtsradikalen Bürgerinitiativen auf der anderen Seite.
Die Geschichte der Stadt ist durch viele politische und gesellschaftliche Umbrüche und Neuanfänge geprägt - und genau das macht sie so besonders sehens- und erlebenswert.
"C the Unseen" - Chemnitz' Vielfalt entdecken
Im Jahr 2025 wird das sächsische Chemnitz gemeinsam mit den umliegenden Kommunen, dem Erzgebirge und dem Zwickauer Land Kulturhauptstadt Europas. "C the Unseen" - so lautet das Motto der Veranstalter: Das bislang Ungesehene und Unentdeckte sichtbar machen. Das Programm beinhaltet einige Schwerpunkte, darunter "Osteuropäische Mentalität", "Nachbarschaft, Respekt, Toleranz" und "Demokratie, Partizipation, gesellschaftlicher Zusammenhalt".
Ein Highlight ist das Projekt 3000 Garagen: Zu DDR-Zeiten wurden überall in der Stadt Garagen gebaut. Sie waren Abstellplätze für Autos, aber auch Räume für soziale Begegnungen oder den Rückzug ins Private. Die Geschichten der einzelnen Garagenbesitzer, die unter anderem in der Porträt-Ausstellung #3000Garagen zu sehen sind, erzählen vom Leben in der einstigen Karl-Marx-Stadt und den Umbrüchen nach 1989.
Nova Gorica, Gorizia, Görz - drei Namen eines Ortes
Es ist ein Novum in der langen Tradition der europäischen Kulturhauptstädte: Zwei Orte treten gemeinsam als Kulturhauptstadt auf - und dennoch jeder für sich. Dahinter steckt die Geschichte der letzten geteilten Stadt Europas, jene von Nova Gorica in Slowenien und Gorizia in Italien.
Doch beginnen wir von vorne: Der Ort wurde um das Jahr 1000 gegründet und war Heimat der Grafen von Görz, einer Herrschaftsdynastie, die zu den bedeutendsten Adelshäusern des südlichen Alpenraums zählte. Später herrschten die Habsburger über die Stadt, die sich damals noch Görz nannte. Es war eine pulsierende, kosmopolitische Stadt - auf den Straßen wurde Slowenisch, Italienisch und Deutsch gesprochen. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Fall der Habsburger Monarchie wurde Görz italienisch und bekam einen neuen Namen: Gorizia. Die slowenische Bevölkerung wurde assimiliert, die kulturelle Vielfalt der Stadt war Geschichte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Karten neu gemischt: Die Siegermächte zogen neue Landesgrenzen mitten durch die Stadt. Der Großteil der Stadt blieb zwar italienisch, doch Josip Broz Tito, der Staatschef von Jugoslawien, zu dem das heutige Slowenien damals gehörte, beanspruchte seinen Teil des Stadtgebiets und errichtete auf der grünen Wiese nebenan die Nova Gorica. Es war eine Planstadt - auf dem Reißbrett erdacht, modern und funktional.
Die Grenze zwischen dem slowenischen Nova Gorica und dem italienischen Gorizia wurde damit zementiert - Familien wurden getrennt, Land neu verteilt, das Misstrauen wuchs auf beiden Seiten. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West in einer Kleinstadt - zwischen vermeintlichen Faschisten und angeblichen Kommunisten.
Nach der Unabhängigkeit Sloweniens von Jugoslawien blieb die Grenze 16 Jahre lang bestehen. Erst als Slowenien 2004 EU-Mitgliedsstaat wurde und 2007 dem Schengenraum beitrat, konnten die beiden Ortschaften daran arbeiten, eine gemeinsame Geschichte aufzubauen, die 2025 einen neuen Höhepunkt hat. Die letzte geteilte Stadt Europas darf sich 2025 mit dem Titel Kulturhauptstadt schmücken.
"Borderless" zwischen Ost und West
Zwar ist die Grenze bereits überwunden, aber die Architektur verrät noch einiges über die Geschichte dieses spannenden Ortes: die italienische Altstadt mit stuckverzierten Fassaden auf der einen und Plattenbauten aus sozialistischer Zeit auf der anderen Seite. Die atemberaubende Natur hingegen hat sich von der geteilten Vergangenheit nicht beeinflussen lassen - sie ist sowohl in Nova Gorica als auch in Gorizia einzigartig. Der türkisblaue Fluss Soča, das grüne Vipava-Tal, die Solkanbrücke - die größte gemauerte Eisenbahnbrücke der Welt - laden zum Staunen und Wandern ein.
Inzwischen steht der Platz, der damals die Trennung zementierte, für die Verbundenheit der Zwillingsstädte. Das Motto des Kulturprogramms 2025 "Borderless" ist also mehr als selbsterklärend: Eine Stadt wird symbolisch aufs Neue vereint. Gemeinsam präsentieren sich Nova Gorica und Gorizia als "grenzenlose Europäische Kulturhauptstadt 2025". Das ist ein Novum in der Geschichte der Kulturhauptstädte.
Europa entdecken
2025 wird das Jahr zweier Orte, die durch die Geschichte viele Umbrüche erlebt und überwunden haben. Sie sind einzigartig, innovativ, vielfältig und sehenswert. Und genau das ist das Ziel des Programms Kulturhauptstädte Europas: Die kulturelle Vielfalt in Europa und gleichzeitig die Gemeinsamkeiten europäischer Kulturen und das Gefühl einer europäischen Zugehörigkeit zu fördern. Ins Leben gerufen wurde das Programm 1985 auf Initiative der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri.
Für Deutschland ist Chemnitz die vierte Stadt, die mit dem Titel Kulturhauptstadt Europas ausgezeichnet wurde. Am 18. Januar ist die Eröffnung geplant. Das im Oktober vorgestellte Programmbuch ist mehr als 400 Seiten stark und enthält rund 150 Projekte und 1000 Veranstaltungen. Die Eröffnung in Nova Goriza/Gorizia ist für den 8. Februar 2025 geplant. Das Programm beginnt mit einem bunten Umzug vom Bahnhof in Gorizia zu dem in Nova Gorica.