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Bulgarien bekommt eine Expertenregierung

Alexander Andreev12. März 2013

Staatspräsident Plewneliew hat nach Massenprotesten nun eine Interimsregierung vorgestellt, die die vorgezogene Parlamentswahl am 12. Mai vorbereiten soll. Regierungschef und Außenminister ist Marin Rajkow.

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Rossen Plewneliew und Marin Rajkow (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Zwei junge Menschen haben sich im Laufe der Proteste in Bulgarien selbst verbrannt. Seit einem Monat demonstrieren Tausende Bulgaren in den Großstädten. Anfangs ging es nur um die schnell wachsenden Strom- und Heizkosten und die vermeintlichen "Monopolisten" auf dem Energiemarkt. Mittlerweile verlangen die Demonstranten einen Systemwechsel und die gründliche Überprüfung des Übergangs nach dem Sturz der kommunistischen Machthaber 1989/1990.

"Die Straße" - wie man die Proteste in Bulgarien nennt - hat ganz unterschiedliche und manchmal widersprüchliche Forderungen: von "Alle Nachwendepolitiker ins Gefängnis!", über "Verstaatlichung der Energiebranche und Privatisierungsstopp" bis "Neue Verfassung und raus aus der EU!" Die Demonstranten, die sich ausdrücklich von allen Parteien abgrenzen, sind sich aber in einem einig: es geht um die gefühlte Ungerechtigkeit in Bulgarien. Konstantin Pentschew, der allgemein geschätzte bulgarische Ombudsmann, bringt es auf dem Punkt: "Es ist das Fehlen von Gerechtigkeit, das die Demonstranten auf die Straße gebracht hat. Die meisten Bürger, die sich bei mir melden, klagen nicht etwa deswegen, weil wir die Ärmsten in Europa sind, nicht wegen der Krise, der Arbeitslosigkeit oder wegen des Einfrierens der Renten und der überhöhten Stromrechnungen. Nein, die Mehrheit ist wütend wegen der fehlenden Gerechtigkeit und Transparenz."

Hauptproblem Armut?

Eigentlich aber geht es letztendlich doch um die massive Armut im Lande, die einige Beobachter mit dem von Brüssel angeordneten und von der zurückgetretenen Regierung strickt umgesetzten Sparkurs erklären. Im Juli 2009 gewannen Boiko Borissow und seine neugegründete Mitte-Rechts-Partei GERB die Parlamentswahl in Bulgarien. Der deutliche Wahlsieg von GERB war nicht zuletzt auf die charismatische Wirkung des ehemaligen Feuerwehrmanns, Bodyguards und Bürgermeister von Sofia Boiko Borissow zurückzuführen, sind sich die Beobachter einig.

Das Kabinett Borissow ist aber in dem Vorhaben gescheitert, die Missstände in Bulgarien zu beseitigen und den Wohlstand zu verbessern. Nun musste die Regierung unter dem Druck der Straße zurücktreten. Staatspräsident Rossen Plewneliew, ein studierter Informatiker, der acht Jahre in Deutschland arbeitete und später in der Borissow-Regierung einen Ministerposten bekleidete, hat das Interimskabinett installiert und wird am Mittwoch (13.03.2013) das Parlament auflösen.
 

Rossen Plewneliew (l.) und Boiko Borissow unterhalten sich am Rande einer Veranstaltung Anfang Febraur 2013 (Foto: AP/Valentina Petrova)
Rossen Plewneliew (l.) im Gespräch mit Boiko BorissowBild: picture-alliance/AP

Bulgarien vor der Pleite?


Der Soziologe Andrei Raitschew ist nicht überzeugt davon, dass die alte Regierung wirklich gespart hat. Er befüchtet das Schlimmste: "Von der Interimsregierung erwarte ich, zuerst die Staatsfinanzen zu überprüfen. Da ist die Lage gar nicht so rosig, vermute ich. Im Gegenteil, ich gehe davon aus, dass der Staat pleite ist." Gespart werde bei den Armen, dafür werde das Geld großzügig für andere Dinge ausgegeben - so die Anschuldigung der "Straße" gegen Borissow. Ob die Proteste auch unter der Interimsregierung weitergehen? Regine Schubert, Leiterin der Sofia-Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung, sagt, dass diese Frage nicht so leicht zu beantworten sei: "Es ist nicht die Interims- sondern die nächste regulär gewählte Regierung, die vor einer großen Herausforderung steht. Nämlich, vor der schier unlösbaren Aufgabe, das Vertrauen der Bürger in der Politik wiederherzustellen."

Die Demonstranten behaupten, alle Nachwenderegierungen seien korrupt gewesen und hätten in die eigenen Taschen gewirtschaftet. "Die Straße", die sich demonstrativ nur unter Nationalfahnen versammelt und mit seltsam anmutenden patriotischen Liedern aus dem 19. Jahrhundert unterwegs ist, bestreitet die Legitimität aller politischen Parteien und verlangt eine breite Bürgerkontrolle über die Regierungstätigkeit. Der Politikwissenschaftler Ogninan Mintschew meint dazu: "In den nächsten zwei Monaten vor der Wahl erwarte ich, dass alle Parteien in neue Rollen schlüpfen werden. Bislang haben sie den Status Quo verteidigt, von nun an aber werden sie dagegen kämpfen. Nur so werden sie Unterstützung bei den Wählern finden.“

Der bange Blick auf den 12. Mai

Alle Beobachter sind sich einig, dass die Interimsregierung eine wichtige Aufgabe hat: einen geregelten, fairen und transparenten Wahlgang am 12. Mai zu sichern. Der Soziologe Peter-Emil Mitew fügt hinzu: "Sie wird äußerst schwierige Verhandlungen mit den Demonstranten führen müssen. Denn die Bevölkerung ist verbittert und wütend."

Ein Weltmeister im Schwimmen als Sportminister und ein bekannter Banditenjäger aus dem Fernsehen als Kultusminister werden wohl als Sympathieträger im Dialog der Interimsregierung mit der "Straße" fungieren. Bislang behaupten die Sprecher der sehr diffusen wirkenden Protestbewegung, dass die Wahl a priori unfair und nicht legitim sein wird. Die Demonstranten werden aber auf jeden Fall ihre heutige Macht bei dieser Wahl kanalisieren wollen. In den letzten Umfragen führt die Borissow-Partei GERB, dicht gefolgt von den Sozialisten. Einzug in das neue Parlament bekommt mit Sicherheit die kleine Partei der türkischen Minderheit in Bulgarien und eventuell auch die liberal-konservative Partei der ehemaligen EU-Kommissarin Meglena Kunewa.

Marin Rajkow (Foto: BGNES)
Ehemaliger bulgarischer Botschafter in London und neuer Regierungschef und Außenminister: Marin RajkowBild: BGNES