Buchenwald: Dunkle Geschichte, heller Auftrag
15. Juli 2012Deutsche Welle: Herr Professor Knigge, in Buchenwald erlebt man viele Jahrzehnte nach dem historischen Geschehen eine funktionierende Gedenkstätte mit Besucherservice, pädagogischem Programm, wissenschaftlicher Forschung und Aufarbeitung. Gibt es eine Herausforderung, der Sie sich immer noch bzw. immer wieder neu stellen müssen?
Volkhard Knigge: Es gibt zwei signifikante Herausforderungen für die Zukunft. Die eine besteht im Abschied von der Zeitzeugenschaft. Diese biographische Erfahrungsbrücke zum Nationalsozialismus wird es nicht mehr geben, weder in der deutschen Bevölkerung noch in der europäischen. Die Überlebenden, die Zeitzeugen, werden uns natürlich fehlen.
Und zweitens: Was in der Bundesrepublik als ein Projekt kritischer historischer Selbstreflexion und Demokratisierung begonnen hat, ist heute – und das ist ein Erfolg – ein staatstragendes Projekt geworden. Historische Aufarbeitung ist in der Mitte der Gesellschaft zumindest normativ angekommen. Das heißt nicht, dass jeder in der Gesellschaft dies begrüßen würde. Es stellt uns aber auch vor die Aufgabe, trotzdem demütig weiterzumachen und die kritischen Elemente zu bewahren.
Wir müssen uns weiter der Frage stellen, welche Nähen, welche Ähnlichkeiten zwischen dieser Vergangenheit und unserer Gegenwart gibt es heute? Wir erleben zur Zeit den Rechtsterrorismus, wir haben die großen Fragen um die Multikulturalität der Gesellschaft, um die Integration von Zureisenden, Zuziehenden, in Deutschland arbeitenden Menschen, wir haben Rechtspopulismus und Nationalismus in verschiedenen europäischen Ländern. Wir brauchen diese Vergangenheit also nach wie vor, um nicht die Schwierigkeiten der Gegenwart mit den falschen Rezepten der Vergangenheit zu kurieren.
Geschichte für die Zukunft
Sind diese Phänomene der Gegenwart eine Brücke, um das historische Thema an ein jüngeres Publikum zu vermitteln?
Jugendliche, die heute kommen, möchten keine "Schuldverordnung" erleben. Es geht nicht um Schuld für Nachgeborene. Es geht darum, sich in die Verantwortung für eine humane Zukunft hineinzustellen - mit guten historischen Gründen. Denn wir reden hier nicht über Märchen, nicht über Fiktion, wir reden über das, was Menschen vor uns extrem falsch gemacht haben. Die interessante Frage für junge Leute heute ist: Wie wird Menschenfeindlichkeit politisch, gesellschaftlich, kulturell, juristisch und auch mit Mitteln der Erziehung gemacht?
Nationalsozialisten sind ja nicht vom Himmel gefallen. Hitler ist nicht mit dem Raumschiff eingeflogen und mit Herrn Himmler ausgestiegen und hat gesagt: Jetzt machen wir mal hier etwas ganz Schlimmes. Sondern was uns am Nationalsozialismus nach wie vor beunruhigen muss, ist sein Charakter als Zustimmungsdiktatur. Er musste gar nicht so sehr terroristisch durchgesetzt werden. Er ist auf eine breite Zustimmung gestoßen, und das unendlich lange. Wir wissen, Deutschland hat sich von dieser Diktatur nicht selbst befreit, es brauchte die totale Niederlage. Und wenn junge Leute um die Gefährdung ihrer Gegenwart und vor allen Dingen ihrer Zukunft relativ gut Bescheid wissen, dann erreicht man sie in dieser historischen Neugier, ohne sie – ich sage es bewusst so – "voll zu sülzen", voll zu moralisieren. Dann holt man sie bei ganz eigenen, vitalen Lebensinteressen ab. Sie müssen ja ihre Zukunft gestalten.
Eine zentrale Frage von heute an den Nationalsozialismus ist ja auch: Wohin führt gesellschaftlich, sozial und ökonomisch produzierte Angst? Wo landet man, wenn man versucht, ernste gesellschaftliche Probleme – die Finanzkrise zum Beispiel - zu lösen, indem man Sündenböcke produziert? Wie bringt man Menschen dazu, andere Menschen zu verachten, ihnen ihre Würde abzusprechen? Welche Erfahrung ist das, staatenlos, rechtlos zu sein? Das heißt: zu lernen aus historischer Erfahrung und dann auch Antworten zu finden, die auf diese Erfahrung reagieren.
Gedenken und Aufklärung
Moderne Gedenkstätten sind eine besondere Form des zeithistorischen Museums, sie haben zentral eine historisch-politisch-ethische Bildungsaufgabe. Also sammeln, bewahren, erforschendes Erschließen – das musste als gesellschaftliche, als kulturelle Aufgabe überhaupt erst etabliert und wertgeschätzt werden. Und das kostet Geld, das ist gelungen.
Das soll natürlich nicht vergessen machen, dass diese Lager zugleich als historische Orte gleichermaßen Tat- und Leidensorte, ja Friedhöfe sind, symbolisch und konkret. Zudem haben wir im Gegensatz zu anderen Museen nach wie vor humanitäre Aufgaben, betreiben Schicksalsklärung für Überlebende oder Angehörige. Wir ermitteln Todesdaten, wer ist mit welchem Transport wohin deportiert worden? Gibt es Lebensspuren von jemandem, der in der Shoah, in diesem Massenmord, in diesem Genozid spurlos "verschwunden" ist. Das alles gehört nach wie vor dazu, und natürlich auch die pädagogische Arbeit in diesem Spannungsfeld von Gedenken und historischer Aufklärung.
Ist der Gedenkort Buchenwald für andere Länder Beispiel gebend?
Die heutige Form einer politisch unterstützten und institutionalisierten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist für Menschen in zivilgesellschaftlichen Organisationen oder in post-diktatorischen Gesellschaften eine ungeheure Ermutigung. Ganz einfach, weil man sagen kann: Wenn das da in Deutschland geht, dann müsste es doch auch in Südamerika gehen, in Südafrika, in Ruanda, im ehemaligen Jugoslawien, in Korea.
Überall dort gibt es Menschen, die an dieser Form, selbstkritisch mit der eigenen Geschichte umzugehen, arbeiten, eine spezifische Form der Geschichtskultur zu fordern, und damit auch Ansprüche und Erfahrungen von Opfern zu formulieren. Dass man Verbrechen auch 'Verbrechen' nennt und nicht einfach als nationale Heldentat verkleidet. So wie wir das jetzt gerade noch einmal in Serbien erlebt haben, wo Srebrenica auf einmal kein Genozid gewesen sein soll. Wir stehen mit solchen Staaten und Initiativen im Kontakt.
Es gibt starke Verbindungen in post-diktatorische Länder Südamerikas, nach Chile, Argentinien. So gesehen sind die Wege von Buchenwald gelegentlich nach New York, nach Kapstadt oder nach Buenos Aires kürzer als nach Gotha. Das Gleiche gilt - Gott sei Dank - nach wie vor für Belgrad und auch Budapest. Und überall gibt es vernünftige Leute, die wir gerne auch fördern mit Praktika oder Jugendaustausch. Gedenkstätten sind Orte der Aufklärung. Es sind Orte mit dunkler Geschichte, aber mit hellem Auftrag.
Echte und falsche Zeitzeugen
Sie sagen, auch die Überlebenden spielen immer noch eine Rolle. Gibt es so etwas wie einen Widerspruch zwischen der persönlichen Erinnerung an historische Ereignisse und der Draufsicht von Ihnen, den Historikern?
Erfahrungsgeschichtliche Quellen, Zeitzeugen sind uns wichtig – wenn es sich denn um Zeitzeugen handelt. Wir kennen ja auch Medien, in denen Menschen für drei Minuten funktionalisiert auftreten und als die Freundin der Sekretärin der Schwester des Bruders von Himmler und Hitler auch mal was zu sagen haben. Und schwierig wird es dort, wo Zeitzeugenschaft politisch funktionalisiert wird.
Das war in der DDR natürlich der Fall. Für Buchenwald, das in der DDR eine zentrale „Nationale Mahn- und Gedenkstätte“ war, kann man das sehr genau beschreiben. Wer durfte hier reden? Das waren handverlesene politische Häftlinge, deutsche, kommunistische Häftlinge, die systemloyal waren. Gehörten sie zu KPD-Oppositionsgruppen, hatten sie schon eine Schwierigkeit. Und waren sie nicht DDR-loyal, sondern DDR-kritisch, dann hatten sie große Schwierigkeiten. Kurzum: Man muss genau hingucken.
Nur wer in diesem Lager war, kann über die Verhältnisse im Lager sprechen. Wer einfach für sich sagt: Ich bin ein Zeuge der Zeugen, nur weil man damit – ich spitze das jetzt mal etwas zu – öffentliche Aufmerksamkeit bekommt, oder weil man auch mal zu einem Cocktailempfang irgendeines Ministers eingeladen wird – entwertet damit die echte Zeugenschaft, die auch deswegen so wichtig war, weil es zur bundesrepublikanischen Erinnerungskultur gehört hat, dass eine Generation in den 1970er und 1980er Jahren diese Menschen überhaupt entdeckt hat.
Schreiben über das Lager
Literatur, Erfahrungsliteratur von Überlebenden wird wichtiger. Und dann sind wir natürlich in Buchenwald – ich sage es mal extra so – "gesegnet" mit den Büchern, mit den Arbeiten von Imre Kertész, von Jorge Semprun, von Eugen Kogon. Denn Buchenwald war ein Zentralort der Deportation europäischer Künstler und Intellektueller, eigentlich der Gegenolymp zu Weimar zwischen 1933 und 1945.
Überlebende haben uns vor allen Dingen etwas zu sagen, auch in den Quellen, die uns bleiben, wie man mit dieser Erfahrung umgeht, was man aus ihr lernen kann. Es ist völlig banal und macht keinen Sinn, Überlebende zu fragen, wie kalt war es im Lager, und waren in der Suppe fünf Gramm Graupen oder sieben Gramm Graupen? Aber das wirkliche Wissen besteht darin, zu fragen: Wie ist diese Erfahrung verarbeitet worden? Welche politischen Konsequenzen, welche kulturellen Konsequenzen haben Menschen daraus gezogen?
Und wie wichtig das sein kann, und wie ergreifend das auch für junge Leute sein kann, zeigt Stéphane Hessel. Ehemaliger Buchenwaldhäftling und Mitglied in der französischen Delegation, die 1948 an der Erklärung der Menschenrechte arbeitete, und heute jemand, der die kritische Jugendbewegung, die heutige Unruhe der Jugend im Kontext von Finanzkrise, von schwindender gesellschaftlicher Integration, von schwindender gesellschaftlicher Solidarität, von schwindenden Zukunftschancen sehr ernst nimmt, und etwas zu sagen hat.
Ohne Historiker gibt es keine Zukunft der Geschichte und der Erinnerung. Und ohne die erfahrungsgeschichtlichen Zeugnisse von Überlebenden würde uns etwas Elementares in dieser Geschichte und Geschichtsschreibung fehlen.
Forschen gegen den Mythos
Sie haben vorhin das Stichwort DDR genannt. Wie schwierig war es denn für Sie – Sie sind schon seit 1994 hier tätig – den Heldenmythos und das Bild des heroenhaften kommunistischen Häftlings zu überwinden oder zumindest in den richtigen historischen Rahmen zu stellen?
Letzteres war unser Ziel. Wir sind nicht als Denkmalstürzer gekommen, nicht als Siegergeschichtsschreiber und nicht als Besserwessi. Wir haben immer gesagt, wir forschen. Was dann von der DDR-Geschichtsschreibung stand hält, das bleibt. Wir verlängern nicht den Kalten Krieg mit anderen Mitteln. Es geht nicht darum, den kommunistischen Widerstand, der ja wirklich sehr wichtig war und sehr eindrucksvoll, vom Sockel zu stürzen. Sondern es ging uns darum, das, was historisch standhält, von den Mythen zu trennen und dieses forschungsbasiert zu rekonstruieren, vernünftig auszuleuchten und zu gewichten. Das war die Aufgabe - auch mit Blick auf die unmittelbare Nachkriegszeit und das damals hier bestehende sowjetische Speziallager.
Der Weg dorthin ist ein auf Forschung und Quellen gestütztes, nicht aufrechnendes Gespräch. Nur wenn man den Balken im eigenen Augen Ernst nimmt, kann man sich mit den Splittern in den Augen der anderen befassen. Das versuchen wir hier zu zeigen. Und dass es gelungen ist, macht uns heute froh.