Briten brüskieren EU-Diplomaten nach Brexit
21. Januar 2021Michel Barnier, der Mann, der die Europäische Union in den zähen Brexit-Verhandlungen vertrat, spricht ganz als Diplomat: "Es wäre weise für Großbritannien, eine kluge Lösung zu finden." Das ist in Wahrheit nichts anderes als eine sanft verhüllte Drohung. "Sie müssen vorsichtig sein", fügt der Franzose noch hinzu, als er von einer irischen Organisation zum "Europäer des Jahres" ausgezeichnet wird. Das Szenario im Falle einer Weigerung überlässt Barnier ganz der Phantasie seiner Zuhörer jenseits des Ärmelkanals - wohl wissend, dass die Inselbewohner auch fortan auf den Kontinent angewiesen sind.
Die Scheidung ist noch frisch, während London nachkartet: Die EU-Vertretung in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs soll nicht den - absolut üblichen - Status als diplomatische Vertretung von Staaten erhalten. Das wäre ein massiver Affront. Denn die Delegationen aller anderen 143 EU-Vertretungen auf der Welt werden genauso behandelt wie die Entsandten von Nationalstaaten. Die Briten wollten die Emissäre aus Brüssel hingegen wie Mitarbeiter einer internationalen Organisation einstufen, schreibt die Deutsche Presse-Agentur unter Berufung auf den Auswärtigen Dienst der EU.
"Einfältige Zänkereien"
Das geht sogar manchen Konservativen im Unterhaus eindeutig zu weit. Der Tory-Abgeordnete und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Tobias Ellwood, nennt die Entscheidung seiner Regierung "einfach nur kleinkariert". Während sich der neue US-Präsident Joe Biden dazu bekannt habe, Allianzen zu stärken, beschäftige sich Großbritannien mit "einfältigen Zänkereien", schreibt Ellwood auf Twitter.
Die Entscheidung ist von großer Bedeutung für das Protokoll. Doch handelt es sich keineswegs um Fragen, die nur Tischkärtchen und Sitzordnungen betreffen. Auch die Immunität - also der Schutz vor Strafverfolgung, den Diplomaten im Gastland genießen - fiele nach den neuen Regeln weg. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte in einem Schreiben an den britischen Außenminister Dominic Raab seine "schwere Besorgnis". Der Vorschlag, der auf dem Tisch liegt, würdige weder den besonderen Charakter der Europäischen Union noch das künftige Verhältnis zwischen London und Brüssel, so Borrell.
Endgültig besiegelt ist die Sache indes noch nicht. Dass eigenwillige Beschlüsse nicht von langer Dauer sein müssen, zeigt das Vorgehen der US-Regierung unter Bidens Vorgänger Donald Trump. Der hatte vor rund zwei Jahren ebenfalls den diplomatischen Status der EU-Vertretung in Washington herabgestuft. Doch nach scharfen Protesten aus Europa nahmen die Vereinigten Staaten die Entscheidung zurück.
Seuchenschutz nach der Scheidung
Großbritannien hat die EU am 31. Januar 2020 verlassen. Zum Jahreswechsel wurde auch der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt vollzogen. Der Handelsvertrag, der in letzter Minute vor diesem Stichtag abgeschlossen wurde, soll die Beziehungen zwischen Kontinentaleuropa und dem Königreich regeln.
Dass die Vorschriften Unbill mit sich bringen, zeigt sich immer deutlicher. So stoßen Verbraucher in Nordirland - das im Gegensatz zum EU-Mitgliedstaat Irland zum Vereinigten Königreich gehört - häufig auf leere Supermarktregale. Der Grund: Bei Lebensmitteln sind nun eingehende Kontrollen auf Verbraucher- und Hygienestandards nötig, vor allem zum Seuchenschutz. Das verzögert auch die Lieferketten. Ebenso klagen britische Musiker über ungekannte bürokratische Hürden, wenn sie in der EU auftreten wollen.
Ex-EU-Unterhändler Barnier, der den Scheidungsvertrag mit großer Contenance ausgehandelt hat, kommentierte die allmähliche Einsicht auf britischer Seite, dass der hochgejubelte Brexit auch schwere Lasten mit sich bringt, recht trocken. Es gebe einfach "unvermeidbare Konsequenzen, wenn man den Binnenmarkt verlässt", sagte der Franzose vor einer Woche der "Financial Times" - und erwies sich auch in der höflichen Umschreibung des Schreckens als Diplomat vom Scheitel bis zur Sohle.
jj/uh (dpa, rtr)