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PolitikEuropa

BRICS oder EU? Wohin will die Türkei?

Anchal Vohra
14. September 2024

Die Türkei will BRICS-Staat werden. Kann das den Beitritt zur EU gefährden oder hilft es der Türkei gar dabei, den Beitrittsprozess wiederzubeleben? Denn der liegt seit Jahren auf Eis.

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Erdogan vor einer Wand mit der Aufschrift "BRICS" und einem Abbild von Nelson Mandela, der eine Faust zum Jubel reckt
Präsident Erdogan beim BRICS-Gipfel 2018 in JohannesburgBild: MIKE HUTCHINGS/AFP/Getty Images

Die Türkei hat sich offiziell um die Mitgliedschaft bei der Vereinigung der BRICS-Staaten beworben. Verschiedene Schwellenländer gehören der Gruppe an, darunter Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Dominiert wird die Vereinigung jedoch von Moskau und Peking.

Der türkische Antrag befände sich "in Bearbeitung", erklärt Omer Celik, Sprecher der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. "Unser Präsident hat bereits mehrfach geäußert, dass wir Mitglied der BRICS werden wollen", sagte Celik Anfang September. "Wir haben unseren Wunsch klar zum Ausdruck gebracht und unser Antrag durchläuft jetzt die entsprechenden Verfahren."

Türkischen Medienberichten zufolge begrüßte der russische Präsident Wladimir Putin den Antrag der Türkei und versicherte, dass er die Aufnahme der Türkei "voll und ganz" unterstütze.

Gegengewicht zum Westen

Die BRICS-Staaten werden häufig als Gegengewicht zu einer Weltordnung unter westlicher Führung beschrieben. Sollte sich die Türkei tatsächlich dieser Vereinigung anschließen, würde das einen Beitritt zur Europäischen Union (EU) unwahrscheinlicher machen. Damit würden auch die Vorteile, die eine Zugehörigkeit zu einem 27 Mitglieder umfassenden Binnenmarkt bietet, weiter in die Ferne rücken.

Die Türkei hat das Recht, selbst zu entscheiden, welche internationalen Partnerschaften sie eingeht. Die EU erwartet jedoch von Kandidatenländern, dass sie die Werte der EU unterstützen, so Peter Stano, Sprecher der EU-Kommission für Auswärtige Angelegenheiten.

Supermond hinter dem Galata-Turm in der türkischen Metropole Istanbul
Die Türkei steht wie so oft in ihrer Geschichte am Scheideweg zwischen Ost und WestBild: Yasin Akgul/AFP

"Wir erwarten von allen EU-Beitrittskandidaten, dass sie die Werte der EU nachdrücklich und uneingeschränkt unterstützen, die Verpflichtungen, die aus den geltenden Handelsabkommen erwachsen, respektieren, und sich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU anschließen", bekräftigt Stano gegenüber der DW. "Hierbei handelt es sich um wichtige Signale bezüglich der gemeinsamen Werte und Interessen sowie die strategische Ausrichtung der Länder", fügt er hinzu.

Stockender EU-Beitrittsprozess

Manche Beobachter erklären die Bemühungen der Türkei, den BRICS-Staaten beizutreten, mit den schleppenden Fortschritten, die das Land bei den EU-Beitrittsgesprächen macht. Im vergangenen Jahr kamen EU-Parlamentarier in einem Bericht zu dem Schluss, dass "die Angleichungsquote der Türkei an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf einen "historischen Tiefstand" von 7 Prozent abgerutscht" sei, "was sie bei weitem zum Schlusslicht aller Erweiterungsländer" mache.

Der Weg der Türkei in die EU führe über Reformen, betonte Nacho Sanchez Amor von der Fraktion der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament. "Wir haben in letzter Zeit ein erneutes Interesse der türkischen Regierung an der Wiederbelebung des EU-Beitrittsprozesses gesehen", stellte er in einer Erklärung aus dem Jahr 2023 fest. "Dies wird aber nicht als Ergebnis geopolitischer Verhandlungen geschehen, sondern wenn die türkischen Behörden ein echtes Interesse daran zeigen, die ständigen Rückschritte bei den Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit zu stoppen."

Der Beitrittsprozess der Türkei begann 2005, kam jedoch 2018 aus verschiedenen Gründen zum Erliegen. So hatte die EU zum Beispiel Bedenken hinsichtlich der Einschränkung der Pressefreiheit, der Kontrolle der Exekutive über die Justiz und der unzureichenden Kontrolle über die türkischen Sicherheitskräfte durch die Zivilgesellschaft.

Aussicht auf die Hagia Sofia, auf die Sultan-Ahmed-Moschee und auf die Galata-Brücke
Der 2005 eröffnete EU-Beitrittsprozess stocktBild: Micha Korb/picture alliance

Özgür Ünlühisarcıklı ist Türkei-Experte am German Marshall Fund (GMF). Er macht die Enttäuschung der Türkei mit der EU für das Interesse des Landes an den BRICS-Staaten verantwortlich.

Die Türkei ist nicht nur unzufrieden mit der EU, weil sie den Beitrittsprozess blockiert, sondern auch, weil sie weder die Modernisierung des Zoll- und Handelsabkommens vorantreibt, noch den Fahrplan für die Visaerleichterungen, die es den Bürgern der Türkei ermöglichen würden, ohne Visum in EU-Länder zu reisen.

BRICS-Gruppe wächst

Seit der Gründung vor 15 Jahren hat sich die Anzahl der Mitgliedsstaaten der BRICS-Gruppe verdoppelt. Ägypten, Äthiopien, der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) traten in diesem Jahr bei und fast 20 weitere Länder, darunter die Türkei, haben einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt.

Den Mitgliedern geht es nicht darum, eine geschlossene Gruppe mit einer gemeinsamen Außen- oder Sicherheitspolitik zu bilden. Ihr Ziel ist es, in den Bereichen Handel und wirtschaftliche Expansion zusammenarbeiten und ein politisches Gegengewicht zu den von den Vereinigten Staaten und Europa dominierten internationalen Institutionen zu schaffen. Erdogans Annäherungsversuche an die BRICS könnten aus Sicht von Türkei-Experten auch dazu dienen, der Türkei ein Druckmittel bei den EU-Beitrittsverhandlungen in die Hand zu geben.

Der EU-Beitrittsprozess der Türkei läge "schon lange im Koma", meint Asli Aydintasbas, eine Türkei-Expertin der Denkfabrik Brookings Institution. Türkische Politiker würden entweder versuchen, diesen Prozess wiederzubeleben oder sie hätten das Gefühl, durch eine BRICS-Mitgliedschaft nichts verlieren zu können.

Portrait von Asli Aydintasbas (Brookings) vor weißem Hintergrund
Asli Aydintasbas (Brookings) sieht den Beitrittsprozess der Türkei in der SackgasseBild: Privat

"Die Europäer haben den Beitrittsprozess der Türkei quasi eingefroren und stehen kurz davor, die Türkei ganz aus ihren Erweiterungsplänen zu streichen, während die Balkanländer Fortschritte machen", erklärt sie der DW. "Die Entscheidungsträger in der Türkei betrachten BRICS ihrer Meinung nach nicht als etwas, das die Stellung der Türkei schwächt, sondern als etwas, das die Aufmerksamkeit des Westens auf das Land zieht."

Diese Strategie könnte auch nach hinten losgehen, warnt Ünlühisarcıklı. Ein Beitritt der Türkei zu den BRICS-Staaten würde das Misstrauen der EU-Staaten wecken. "Wird die Türkei BRICS-Mitglied, würde das ihrer Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit innerhalb des transatlantischen Bündnisses weiteren Schaden zufügen", sagt er zur DW.

Unzuverlässiger Partner

Das Image der Türkei hat in den westlichen Hauptstädten bereits durch andere außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen des Landes gelitten. So weigerte sich die Türkei, Sanktionen gegen Russland zuzustimmen und wurde stattdessen zu einem der größten Abnehmer russischen Rohöls. Außerdem unterstützt das Land Hamas, die radikal-islamische palästinensische Terrorgruppe, die am 7. Oktober 2023 Israel überfiel. Die USA und andere NATO-Staaten waren zudem ausgesprochen verärgert, als das NATO-Mitglied Türkei 2017 S400-Boden-Luft-Raketenabwehrsysteme von Russland kaufte und als das Land 2022 die schwedische und finnische Mitgliedschaft in der NATO um zwei Jahre verzögerte, bevor es schließlich in diesem Jahr seinen Widerstand aufgab.

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Seine strategische Lage zwischen West und Ost macht das Land jedoch unverzichtbar für die Missionen von NATO und USA in der Region. 2016 unterzeichnete die Türkei ein für die EU wichtiges Abkommen über die Rückführung irregulärer Migranten, die aus der Türkei in die EU gelangen.

Trotz der Rolle, die das Land in diesen internationalen Krisen zukommt, nimmt das Misstrauen zwischen der Türkei und ihren Verbündeten nicht ab. Eine Studie zu den Beziehungen der Türkei mit ihren westlichen Verbündeten kommt zu dem Schluss, die Türkei sei nach Ansicht der Befragten in allen Ländern, in denen die Umfrage durchgeführt wurde "die am wenigsten verlässliche Partnernation". Gleichzeitig hatten von den Befragten die türkischen die größten Zweifel an der Zuverlässigkeit der anderen Verbündeten.

Experten aus der Türkei halten es für ein Land, das sich zwischen Ost und West befindet, durchaus für sinnvoll, eine ausgeglichene Außenpolitik zu betreiben. "Ohne Zweifel sind die Beziehungen mit der EU ungleich wichtiger, aber Erdogan ist wirklich der Überzeugung, dass er den Westen gegen nicht-westliche Nationen ausspielen kann" meint Aydintasbas.

Alexandra von Nahmen hat zu diesem Artikel beigetragen.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.