1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Breslau rüstet sich für die große Flutwelle

Marta Thor (aus Breslau)
17. September 2024

Sandsäcke schaufeln, Pegelstand checken: Die Breslauer Bürgerinnen und Bürger bereiten sich auf ein dramatisches Hochwasser vor. Unklar ist nur, wann es kommt und wie hoch es wird. Eine Stadt zwischen Panik und Hoffnung.

https://p.dw.com/p/4ki1c
Ein Fluss mit einer Brücke aus der Luft
Die Oder in der südwestpolnischen Stadt Breslau (Wroclaw) Bild: Marta Thor/DW

Die Schaufel kratzt metallisch über den Boden. Bald sind da mehr Steinchen als Sand. Aber jedes Sandkorn zählt. Kasia Piskorek schnauft schwer, als sie den schweren Sandsack in einen Schubkarren wuchtet, wischt sich dann die feinen Schweißperlen mit der Handoberseite von der Stirn. Froh sei sie, dass sie hier überhaupt noch Sand bekommt, sagt die junge Frau.

Piskorek möchte ihr Haus in Breslau (polnisch: Wroclaw) absichern. Es liegt idyllisch in einem ruhigen, grünen Viertel in Oder-Nähe, geradezu umzingelt von zwei Flussarmen der Oder, die zu einem großen See zusammenzuwachsen drohen. Den Sand, 26 Tonnen, hat die Stadt kostenfrei in ein früheres Straßenbahndepot, jetzt ein Kulturzentrum, geliefert.

Ein Mann steht auf einem großen Sandhaufen und füllt Sand in einen Sack
Bewohner von Breslau füllen am Montag Sand in SäckeBild: Marta Thor/DW

Der Sand für die Einwohner sei nur eine von mehreren Maßnahmen, erklärt die Koordinatorin Adela Jakielaszek vom Hilfsverein Tratwa. Neben dem Sand werden Hilfsgüter für die Flutopfer in den Bergen Niederschlesiens gesammelt und dorthin gebracht. Städte und Städtchen wie Klodzko, Ladek-Zdroj oder Glucholazy im Südwesten Polens hat das Hochwasser besonders hart getroffen. Brücken wurden weggeschwemmt, die Altstädte überflutet, Menschen wurden über Nacht obdachlos. Es gibt Vermisste und sogar Todesopfer.

Das Wasser steigt unerbittlich

"Menschen aus ganz Polen versuchen zu helfen und melden sich bei uns", sagt Jakielaszek. An Helfern mangelt es nicht. Über 200 Freiwillige haben sich an diesem Montag gemeldet. Einer von ihnen ist der Inder Pranav Kelkar. Der 25-Jährige kam vor drei Jahren zum Studieren nach Polen, arbeitet in einer IT-Firma - und hilft jetzt potenziellen Flutopfern beim Sandschippen. "Die Bilder aus den überfluteten Orten in Niederschlesien waren erschreckend." Etwas ängstlich ist er, aber vor allem auch aufgeregt. Nach weniger als einer Stunde ist der Sand weg.

Ein junger Mann in orangener Weste mit einer Schaufel in der Hand
Der indische Student Pranav Kelkar hilft in Breslau am Montag beim SandschippenBild: Marta Thor/DW

Breslau ist vier Tage vor der angekündigten "Großen Welle" in einem seltsam schwelenden Zustand zwischen Panik, Hoffnung, genereller Aufregung und - noch jedenfalls - Schaulust: Spaziergänger kommen an die zahlreichen Brücken und Dämme ans Oderufer, um zu sehen, wie hoch das Wasser ist. Und es steigt unerbittlich.

Die heftigen Regenfälle, die in Tschechien, Polen, der Slowakei, Rumänien, Österreich und Ungarn eine Spur der Verwüstung hinter sich lassen, sollen - je nach aktuellem Stand - gegen Mittwochabend oder Freitagmorgen - die niederschlesische Metropole erreichen. Und in Breslau ist die Angst groß. Liegt die Stadt doch direkt an der Oder, einem Knotenpunkt mit mehreren Nebenflüssen wie der Olawa, Widawa und Sleza. Wenn die Flutwelle kommt, dann werden einige Stadtteile mit großer Wahrscheinlichkeit wieder überflutet - und sei es "nur" vom ebenfalls steigenden Grundwasser.

Erinnerungen an die Jahrhundertflut

Sonntagnacht gegen zwei Uhr erreichte die erste große Flutwelle die Stadt Glatz (Klodzko) an der Glatzer Neisse. Nun, wo das Wasser abgezogen ist, sieht man erst das ganze Ausmaß der Verwüstung. Genau diese Bilder nähren die Angst der knapp 700.000 Breslauer Einwohner. Zu gut können sie sich noch an das Trauma der Jahrhundertflut aus dem Jahr 1997 und an das Hochwasser von 2010 erinnern.

Am Sonntagabend hat der Breslauer Stadtpräsident Jacek Sutryk die Hochwasserlage ausgerufen - bewusst mit dem ungünstigsten Szenario. "Ich möchte lieber auf das Schlimmste vorbereitet sein als zu wenig", sagte er auf seiner Pressekonferenz. Zugleich muss die Stadtverwaltung vor Fake News warnen: Auf X teilt sie mit, es sei nicht wahr, dass Deiche gesprengt werden würden, dass das Leitungswasser in der Stadt vergiftet sei oder dass "Tausende Menschen zwangsweise evakuiert und ins Stadion gebracht" würden. Die Stadtverwaltung ruft dazu auf, nur Informationen offizieller Quellen zu vertrauen.

Eine Brücke über einen Fluss, im Hintergrund ein großes Gebäude
Vor dem Hochwasser: Abbau eines Gerüstes an der Universitätsbrücke in BreslauBild: Marta Thor/DW

Ebenfalls bereits Sonntagnacht hat die Stadt damit begonnen, die neuralgischen Punkte mit Sandsäcken zu verstärken, um den Schutzwall an diesen Stellen zu verstärken. Gerüste an Brücken, die gerade saniert werden, wurden abgebaut.

Eine weitere Maßnahme ist ein erster offizieller Anlaufpunkt, wo man Sand zum Befüllen von Säcken zur Sicherung von Privateigentum erhält. Schon vor der Öffnung des Bauhofs am Montag um 12 Uhr bricht das absolute Verkehrschaos aus. "Wir hatten eine Verkehrsumleitung, die Leute hätten nur geduldig in der Schlange warten müssen. Aber sie sind in totale Panik verfallen, es ist das reinste Chaos", winkt eine Mitarbeiterin ab.

Nicht genug Sand

Wie Ameisen krabbeln die Menschen bei strahlender Sonne über Sandberge, schleppen Sandsäcke zu ihren Autos. Darunter auch zwei Nonnen, die ihr Kloster schützen wollen. Und die Leiterin einer Kinderkrippe, Ania Kozok, sagt: "Ich hoffe, wir haben unsere Lektion nach 1997 gelernt und unsere Hausaufgaben gemacht." Die Sandsäcke sollen den Eingang ihrer Einrichtung schützen.

Viele Menschen mit kleinen Transportwagen, auf denen Sandsäcke liegen
Bewohner von Breslau holen sich SandsäckeBild: Marta Thor/DW

Der 15-jährige Antoni Wysnul hat sich von der Schule freistellen lassen, um als Freiwilliger zu helfen. Unermüdlich schaufelt er Sand in Säcke, hebelt sie in Einkaufswagen, Lastenwagen vom nahen Baumarkt und Kofferräume. "Es gibt einfach nicht genug Sand, es bräuchte sicher viermal so viel."

Nach dem Dauerregen der letzten Tage knallt die Sonne an diesem Montagnachmittag nun doch sehr unerwartet vom Himmel. Der prognostizierte Regenfall kommt nicht. Die Menschen schaufeln dennoch unermüdlich Sand. Aufgrund der Hochwasserlage beenden die letzten geöffneten Beach Bars am Oderufer die Saison. Es sind Bars, die direkt am Fluss liegen und in den Sommermonaten Sand aufschütten, um als Strand-Bars Gäste anzulocken. Nun stellen sie den Menschen über soziale Medien den Sand zur Verfügung. Er würde sonst ohnehin nur vom Hochwasser weggespült werden - so rettet er zumindest den Besitz einiger Menschen.

Menschen prüfen Wasserstand mehrmals täglich

Viel zu schnell dämmert es. Zwei Männer sind mit Anhänger zu den Überresten einer Beach Bar gekommen und schaufeln Sand in Säcke, die sie dann in einen Anhänger laden. "Es gibt zu wenig helfende Hände", klagen sie. "Jeder versorgt sich selbst. Wir wollen aber unsere Schule vor dem Hochwasser schützen."

Eltern mit Kinderwagen, Jogger, Fahrradfahrer, Schaulustige und Besorgte - sie alle zieht es im Laufe des Tages immer wieder ans Ufer. Manchmal sogar mehrmals, wie Joanna Kalczewska: "Ich war heute früh schon hier, da war noch etwas weniger Wasser. Vor allem war aber die Strömung nicht so heftig wie jetzt", sagt sie. Die Sorge in ihrer Stimme ist deutlich zu hören. Eine zweite Katastrophe wie 1997 will sie nicht erleben. 

Zwei Frauen am Ufer eines Flusses
Zwei Frauen am Montagabend am Ufer der Oder in Breslau Bild: Marta Thor/DW

Langsam legt sich die Nacht über die Stadt. Viele Einwohnerinnen und Einwohner können nicht schlafen. Bis spät in die Nacht hinein wandern sie immer wieder ans Wasser. Vergewissern sich, wo das Wasser gerade steht. Und hoffen, dass die große Welle doch nicht so verheerend wird, wie befürchtet.

In der Nacht dann wird Wasser aus einem Rückhaltebecken bei Mietkow, südwestlich von Breslau, in den Fluss Bystrzyca abgelassen. Das führt Stunden später zu einer Überflutung der Wohnsiedlung Marszowice im Nordwesten Breslaus. Das Militär ist seit der Nacht dabei, in der Siedlung Schutzwälle mit Sandsäcken zu stärken. Und da ist die erwartete Flutwelle noch nicht einmal angekommen.

Porträt einer blonden Frau
Marta Thor DW-Autorin und Reporterin