Brasiliens Machtkampf der Frauen
29. September 2014"Ich glaube, sie können sich nicht ausstehen", sagt Valeriano Costa, Soziologe an der Universität Unicamp im brasilianischen Bundesstaat São Paulo. "Beide Politikerinnen sind starke Persönlichkeiten, doch ihre Sicht auf die Welt und ihr ideologisches Profil sind diametral entgegengesetzt."
Dabei hätte alles so harmonisch ablaufen können. Sowohl Amtsinhaberin Dilma Rousseff als auch ihre Herausforderin Marina Silva von der sozialistischen Partei Brasiliens (PSB) begannen ihre politische Karriere in der brasilianischen Arbeiterpartei PT. Die 56-jährige Umweltaktivistin Marina Silva erzählt bei jedem Wahlkampfauftritt Episoden von ihrem 25 Jahre langen Einsatz für die Arbeiterpartei.
Dilma Rousseff trat erst 1998 in die PT ein. Zuvor war die Volkswirtin Mitglied der sozialdemokratischen Partei PDT (Partido democrático trabalhista) und arbeitete unter anderem für die Stadtverwaltung von Porto Alegre. Während der brasilianischen Militärdiktatur (1964 bis 1985) beteiligte sie sich am bewaffneten Widerstand und wurde inhaftiert und gefoltert.
Vom Gefängnis in den Regierungspalast
Während der Militärdiktatur entwickelte sich die 1980 gegründete PT zu einem Sammelbecken für den politischen Widerstand. Sie trug entscheidend zur Redemokratisierung des Landes bei. Mit Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zog am 1.1.2003 erstmals ein Arbeiter in den Regierungspalast ein, acht Jahre später folgte ihm Dilma Rousseff als erste Frau im Präsidentenamt.
"Es gibt eine politische Hegemonie der PT in Brasilien", beobachtet der Soziologe Valeriano Costa. "Denn neben Dilma und Marina kommen noch zwei weitere Präsidentschaftskandidaten aus dem Umfeld der PT: Eduardo Jorge Martins von den Grünen, und Luciana Genro von der 'Partei für Sozialismus und Freiheit' (Psol)."
Unter dem Dach der Arbeiterpartei versammeln sich jedoch sehr unterschiedliche politische Strömungen. "Es gibt die Bewegung der Landarbeiter und der Umweltschützer, aus der Marina Silva stammt", erklärt Soziologe Costa. "Es gibt aber auch das linke ideologische Milieu städtischer Gewerkschaften und der Industriearbeiter, aus dem Dilma Rousseff und Ex-Präsident Lula kommen."
Erst Genossin, dann Gegenspielerin
Von der gemeinsamen parteipolitischen Vergangenheit der beiden Präsidentschaftskandidatinnen ist im jetzigen Wahlkampf nur noch wenig zu spüren. Im Gegenteil. Kurz vor dem ersten Wahlgang am 5. Oktober spitzt sich die Rivalität zwischen Rousseff und Silva erneut zu.
Der Riss zwischen den beiden politischen Weggefährtinnen offenbarte sich erstmals im Mai 2008. Aus Protest gegen den wirtschaftspolitischen Wachstumskurs von Ex-Präsident Lula und seiner damaligen Kabinettschefin Dilma trat Marina Silva von ihrem Amt als Umweltministerin zurück. Weil Lula nicht sie, sondern Rousseff zu seiner Nachfolgerin kürte, verließ sie 2009 die PT und zog ein Jahr später als Kandidatin der brasilianischen Grünen in den Präsidentschaftswahlkampf.
Im aktuellen Wahlkampf erfährt das Duell der Damen nun eine unverhoffte Neuauflage. Nach dem Tod des Präsidentschaftskandidaten Eduardo Campo von der PSB tritt Marina als seine Stellvertreterin ins Rampenlicht und steigt erneut gegen Rivalin Rousseff in den Ring.
"Marina wirkt wie ein Engel in den Niederungen der Politik, weil sie nicht mit den üblichen Korruptionsvorwürfen in Verbindung gebracht wird", meint Brasilienkenner Thomas Fatheuer, ehemaliger Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien. Während Dilma mit den Skandalen ihrer Partei kämpfe, präsentiere sich Marina als "Vertreterin des neuen Brasiliens".
Unvorhersehbarer Wahlkampf
Doch der Diskurs von der "neuen Politik" scheint kein Erfolgsgarant zu sein. Nach den jüngsten Meinungsumfragen des Institutes "Datafolha" sinken die Zustimmungswerte für Marina Silva kontinuierlich. Innerhalb eines Monats, zwischen dem 30. August und 27. September, rutschte sie in der Wählergunst von 34 Prozent auf 27 Prozent ab. Amtsinhaberin Rousseff hingegen gewann sechs Prozent hinzu und liegt jetzt bei 40 Prozent.
"Marina hat an Schwung verloren, die Tendenz ihrer Zustimmungswerte ist weiter absteigend", erklärt Politikexperte Valeriano Costa. "Es könnte sogar sein, dass Amtsinhaberin Dilma die Wahl im ersten Wahlgang für sich entscheidet, was bis vor kurzem noch völlig undenkbar war."
Für den unverhofften Abstieg machen Experten den Schlingerkurs von Marina Silva verantwortlich. So will die Kandidatin der PSB die Sozialprogramme der amtierenden Regierung fortsetzen, gleichzeitig aber die staatlichen Ausgaben senken. Auch der Schutz des Amazonas-Regenwaldes soll verstärkt werden, ohne die Interessen der exportorientierten Agrarwirtschaft zu beeinträchtigen.
"Marina markiert die Abkehr von der bisherigen Politik – ohne dabei 'das Neue' klar zu definieren", so Experte Thomas Fatheuer. Obwohl sie als einzige der Kandidaten ein Regierungsprogramm veröffentlicht habe, blieben ihre Vorschläge unscharf und vage. Am 5. Oktober entscheiden Brasiliens Wähler, ob Staatspräsidentin Dilma Rousseff erneut das Damenduell gewinnt.