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Spagat fürs Leben

Astrid Prange5. August 2016

Vom Armenviertel aufs Siegerpodest: Der brasilianische Traum vom Sport als sozialem Sprungbrett ist bei den Olympischen Spielen in Rio allgegenwärtig. Auch wenn er nur selten in Erfüllung geht, prägt er das Land.

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Rio Turnerin Rebeca Andrade Qualifikation Olympische Spiele
Bild: Getty Images/M. Stockman

Turnerin Rebeca Andrade (Artikelbild) lebt diesen brasilianischen Traum und wird dafür von den Medien gefeiert. Die 17-jährige Turnerin ist eine der 465 Athleten, die der brasilianischen Olympia-Delegation angehören. Stufenbarren, Schwebebalken, Bodenturnen – seit ihrem fünften Lebensjahr trainiert die Athletin hart für Anerkennung.

Ihr Aufstieg ist eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch brasilianischer Klischees: Ihre Mutter, eine Hausangestellte, ging zu Fuß zur Arbeit, damit sich ihre Tochter die Fahrkarte zur Turnhalle "Bonifácio Cardoso" in ihrer Heimatstadt Guarulhos leisten konnte. Schon mit neun Jahren verließ Rebeca Andrade für ihren Traum ihre Familie – sie hatte ein Angebot vom berühmten Sportclub Flamengo in Rio bekommen.

Begegnung auf Augenhöhe

Pelé, Romario, Kampfsportler Anderson Silva, Fußballerin Marta, Volleyballerin Fabiana Claudino und Turnerin Rebeca – das soziale Trampolin hat viele Athleten in Brasilien nicht nur olympiareif, sondern auch weltgewandt und wohlhabend gemacht.

"Beim Sport begegnen sich arme und reiche Brasilianer auf Augenhöhe", erklärt Historiker Marcel Diego Tonini von der Universität São Paulo, der mit einer Doktorarbeit über "Schwarze im Fußball" promovierte. "Die Hürden, über den traditionellen Bildungsweg aufzusteigen, sind oft größer als im Sport".

In einem Land mit extremen sozialen Gegensätzen wie Brasilien genießen Spitzensportler deswegen Heldenstatus. Fußballern wie Neymar kommt Kultstatus zu – sie lassen nicht nur Millionen von brasilianischen Jungens aus den Favelas von einer Karriere als Profifußballer träumen, sie sorgen auch für modische Trends, was sich an den zahlreichen Nachahmern von Neymars Haarschnitt bemerkbar macht.

Mittelgewichtschampion Anderson Silva gegen Daniel Cornier
Aufstieg und Fall: Mittelgewichtschampion Anderson Silva hat sich nach oben gekämpftBild: Getty Images/R. Del Rio

Rebellion im Boxring

Für den brasilianischen Sportjournalisten Cosme Rímoli verkörpert der berühmte Kampfsportler Anderson Silva diesen brasilianischen Traum. "Arm, perspektivlos und wütend – das sind die Motive vieler Champions im Kampfsport", sagte er kürzlich vor der brasilianischen Presse. "Millionen von Brasilianern trainieren hart, um der Armut zu entkommen. Anderson hat es geschafft."

Mittlerweile ist Mittelgewichtschampion Anderson Silva in Ungnade gefallen. Bei seinem Comeback nach einer Verletzung im Kampf gegen Nick Diaz am 31. Januar 2015 wurde er positiv auf den Konsum von anabolen Steroiden getestet. Der Sieg wurde Silva daraufhin aberkannt, und er wurde für ein Jahr gesperrt.

Dopingskandale und Korruptionsaffären im brasilianischen Sport haben bisher allerdings nicht am Traum vom sozialen Aufstieg für Athleten rütteln können. Die nationalen Sportidole arbeiten unermüdlich daran, dass dieser Traum lebendig bleibt.

Trainieren fürs Leben

So ließ Fußballkönig Pelé während seiner Zeit als Sportminister 1995 bis 1998 im ganzen Land Sportzentren bauen, in denen Kinder und Jugendliche nicht nur zu Athleten, sondern auch "Siegern" in allen anderen Bereichen des Lebens trainiert werden sollten.

In ganz Brasilien wimmelt es von "Fußballschulen", die von Stars wie Jorginho, Ronaldo oder Romário finanziert werden und als sicheres Sprungbrett für die erhoffte Karriere gelten. Auch Alt-Tennisstar Gustavo Kürten, der nur dank der finanziellen Hilfe von seiner Großmutter aus Deutschland trainieren konnte, hat seine Schule zur Förderung des Tennis-Nachwuchses gegründet.

ehemaliger Fussballspieler Romario, brasilianischer Abgeordneter
Erst Sportler, dann Politiker: Fußballstar Romario wuchs in einer Favela in Rio auf und sitzt mittlerweile im SenatBild: Alexandra Martins/Câmara dos Deputados

Arme Fußballer?

Unzählige soziale Projekte nutzen die brasilianische Leidenschaft für Sport, um Kindern aus Armutsvierteln über den sportlichen Umweg einen Zugang zu einer Berufsausbildung oder einen guten Schulabschluss zu verschaffen.

Auf politischer Ebene gibt es mittlerweile eine Sportförderung, wenn auch noch in einem überschaubaren Ausmaß. So erhalten nach Angaben des brasilianischen Sportministeriums 70 Prozent der 465 Athleten in der brasilianischen Delegationen eine Art Förderung oder Stipendium.

Doch trotz aller Anstrengungen bleibt der brasilianische Traum für die meisten unerfüllt. Ausgerechnet eine kürzlich veröffentlichte Statistik des mächtigen brasilianischen Fußballverbandes (CBF) belegt dies eindrücklich.

Danach verdienen von den insgesamt 28.203 im Verband registrierten Spielern nur 499 (1,77 Prozent) mehr als umgerechnet 2800 Euro monatlich. Die überwältigende Mehrheit, 23.238 Spieler (82 Prozent), muss sich mit einem Salär von maximal 281 Euro zufrieden geben.

Fußball - FC Rosengard
Marta Vieira da Silva entschied sich gegen den Willen ihrer Familie für eine Sportlerkarriere. Sie wurde beste Fußballerin der WeltBild: picture-alliance/dpa/Peter Steffen

Vergessene Helden

"Bei mehr als 90 Prozent hat sich Sport somit als Instrument für den sozialen Aufstieg als ungeeignet erwiesen", meint Sergio Settane Giglio, Sportwissenschaftler an der Universität Unicamp in Campinas. "Der Traum vom sozialen Trampolin ist ein Mythos." Die meisten Athleten spielten in unbekannten Klubs. "Wer gut verdient, hat einen weiten Weg hinter sich", weiß Giglio.

Historiker Marcel Tonini ist die Vergötterung von Spitzensportlern und insbesondere Fußballern in Brasilien unheimlich. Sie verdränge, wie viele andere wichtige Persönlichkeiten sich um die Geschichte Brasiliens verdient gemacht hätten.

"Niemand erinnert sich zum Beispiel mehr an Abdias Nascimento, Brasiliens erstem schwarzer Senator", erklärt Tonini. Dabei habe dieser für die Rechte der Schwarzen gekämpft und enorm viel erreicht. Seine Bilanz fällt kritisch aus: "Die Bevölkerung feiert Athleten als Helden, weil sie die Geschichte Brasiliens nicht kennt."