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"Bis heute weine ich um ihn"

6. Juli 2004

- Vermisste Jugendliche in Tschetschenien

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Bonn, 5.7.2004, DW-RADIO / Russisch, Natalja Nesterenko/Christiane Hoffmann

In Tschetschenien werden immer wieder Menschen entführt und verschwinden spurlos. Manchmal tauchen sie nach Tagen wieder auf, manchmal müssen Angehörige sie freikaufen und sich dafür verschulden. Doch ein Großteil bleibt verschwunden. Im vergangenen Jahr waren es 500 Menschen, schätzt die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial", in diesem Jahr hat sie 173 Fälle registriert. Hinter jeder der Zahlen steckt ein Schicksal - einem hat DW-Korrespondentin Natalja Nesterenko nachgespürt.

Über den Verbleib des Zehntklässlers Alwi Dudajew aus Grosny ist schon seit drei Monaten nichts mehr bekannt. Seine Eltern erinnern sich an die Nacht im April, als er verschwand. Soldaten hatten den Hof des Hauses der Familie Dudajew umstellt. Und dann lief die Spezialoperation oder Entführung - wie es der Vater von Alwi nennt - nach in Tschetschenien bekanntem Szenario ab:

Vater:

"Sie haben das eiserne Tor zu unserem Hof aufgebrochen. Es waren ungefähr 30-35 Männer mit Masken. Sie haben uns mit Waffen bedroht und einer hat mich auf die Schultern geschlagen. Ich bin hingefallen und lag am Boden. Sie haben meinen Sohn herausgeholt, ihm Handschellen angelegt und ihm ein T-Shirt über den Kopf gezogen. Dann haben sie ihn mitgenommen. Meiner Frau, meiner Tochter und meiner Nichte haben sie gedroht und sie mit den Waffen geschlagen. Sie mussten sich auch auf den Boden legen. Sie haben mir noch meinen Pass weggenommen und dann sind sie weggefahren."

Alwis Vater ging zur Polizei und zum Innenministerium - doch niemand wusste etwas über den Sohn, und auf Schreiben der Familie haben die Behörden bisher nicht reagiert, klagt Mutter Rosana Dudajewa:

"Diese Regierung hat mir nicht geholfen, ich ging zum Bürgermeister. Er hat mir gesagt: Gut, ich werde es klären. Gehen Sie nach Hause, sagte er. Ich glaubte an diese schönen Worte, ich glaubte er kommt wieder - wahrscheinlich nicht am Tage aber in der Nacht. Wenn er schuldig ist, dann sollen sie ihn verklagen. Wir haben hier eine Staatsanwaltschaft, eine Polizeistation und ein Innenministerium. Dann soll er vor Gericht gebracht werden. Aber sie wissen bis heute nicht, wo er geblieben ist. Bis heute weine ich um ihn. Ich kann nicht mehr schlafen, ich weiß nicht mehr, an wen ich mich wenden soll."

Während des letzten Krieges sind in Tschetschenien ungefähr 3.000 Menschen verschwunden, schätzt die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial". In diesem Jahr hat die Organisation 173 Entführungen registriert. 13 Entführte wurden später tot aufgefunden, über den Verbleib von mehr als 70 weiß "Memorial" bis heute nichts. Die wahre Zahl der Entführten dürfte viel höher liegen, denn die Menschenrechtler erhalten nur aus einem knappen Drittel des tschetschenischen Territoriums Informationen.

Früher waren es vor allem junge Männer, die verschwanden. Jetzt sind es auch Frauen oder eben Schüler wie Alwi von der 34. Schule. Als seine Mitschüler von Alwis Verschwinden erfuhren, haben sie vor der Verwaltung dagegen protestiert: "Wie sind keine Kriminellen, wir sind Schüler" stand auf den Plakaten. Sie forderten die Behörden auf, den Aufenthaltsort von Alwi zu nennen und ihn freizulassen. Doch passiert ist nichts und auch die Klassenkameraden von Alwi haben Angst.

Schüler:

"Natürlich fürchten wir uns. Wenn er mitgenommen wurde, können wir genauso mitgenommen werden, wo ist da ein Unterschied?"

Die Unklarheit sei das Erschreckendste, meint die stellvertretende Schulleiterin Sarem Gantimirowa. Niemand sage einem etwas. Und es würden immer mehr Kinder und Jugendliche entführt oder verschwinden spurlos. Die Eltern, sagt sie, fürchten schon, ihre älteren Kinder in die Schule gehen zu lassen.

Gantimirowa :

"Die Eltern kommen in die Schule und bitten darum, die Schüler aus der Oberstufe vom Unterricht zu befreien, weil sie Angst um sie haben." (lr)