Bethlehem: Entsetzen über "Ehrenmord"
2. September 2019Empörung auf der Straße und im Netz. Zahlreiche arabische Frauen demonstrierten in den vergangenen Tagen im Westjordanland gegen den Tod der jungen Palästinenserin Israa Ghrayeb. Nachdem männliche Familienmitglieder die 21-Jährige Visagistin aus Bethlehem zweimal schwer misshandelt hatten, erlag die junge Frau am 22. August ihren Verletzungen.
Entschieden kritisierten die Demonstrantinnen die brutale Gewalt und die Umstände, die aus ihrer Sicht zum Tod der jungen Frau geführt hatten: ein falsches Verständnis von "Familienehre", aggressives Patriarchat, und Berufung auf menschenverachtende Traditionen.
Zum Verhängnis war Israa Ghrayeb ein Video geworden, das sie auf der Plattform Instagram veröffentlicht hatte. Auf diesem war sie mit ihrem Partner zu sehen. Die Verlobung der beiden soll unmittelbar bevor gestanden haben.
Die Aufnahme vor der geplanten Verlobung schien die Familie Ghrayeb so sehr empört zu haben, dass diese angeblich ihren Bruder damit beauftragte, sie körperlich zu züchtigen. Als Israa Ghrayeb versuchte, den Misshandlungen zu entkommen, stürzte sie aus dem zweiten Stock des Elternhauses. Dabei zog sie sich laut Presseberichten Verletzungen an der Wirbelsäule zu.
Im Krankenhaus fotografierte sich Israa Ghrayeb mit ihren Verletzungen und setzt die Bilder ebenfalls in die sozialen Netzwerke. "Ich bin stark und will leben", schrieb sie. "Hätte ich diese Willenskraft nicht, wäre ich gestern gestorben".
Ermutigungen brauche sie darum nicht, schickte sie hinterher. "Schick mir keine Botschaften, die mir sagen, dass ich stark sein soll, ich bin stark. Möge Gott der Richter über diejenigen sein, die mich unterdrückt und verletzt haben", fügte sie hinzu.
Tod im Elternhaus
Offenbar provozierte sie mit ihren Posts ihre Familie ein zweites Mal. Denn daraufhin wurde sie im Krankenhaus von ihrem Bruder und weiteren männlichen Verwandten ein weiteres Mal brutal geschlagen und misshandelt. Am 22. August erlag sie schließlich im Haus ihrer Eltern ihren Verletzungen.
Laut Presseberichten erklärte die Familie von Israa Ghrayeb, nicht für ihren Tod verantwortlich zu sein. Die Tochter sei an Herzversagen gestorben. Darüber hinaus behauptet sie, die junge Frau sei von Dämonen besessen gewesen und es habe deshalb eine "Austreibung" stattfinden müssen. Die palästinensische Polizei hat sich bisher zu dem Fall noch nicht geäußert.
Die palästinensische Dokumentarfilmerin Imtiaz al-Maghrabi ist sich sicher: "Jede palästinensische Frau kann Opfer eines solchen Verbrechens werden", sagt sie im DW-Gespräch. Al-Maghrabi, die gerade einen Film über "Ehrenmorde" dreht, wurde im März dieses Jahres vom "Arab Women's Media Center" für ihre Arbeit ausgezeichnet.
Juristischer Gegenwind
Der Kampf gegen "Ehrenmorde" hat in mehreren arabischen Ländern zugenommen. So schaffte im Libanon das Parlament 2011 einen Artikel des Strafgesetzbuches (Paragraph 562) ab, der es ermöglichte, so genannte Ehrverbrechen milde zu bestrafen. 2017 folgten Tunesien und Jordanien mit ähnlichen Gesetzen.
In Jordanien werden "Ehrenmorde" juristisch genauso wie jeder andere Mord behandelt. Allerdings sind die Richter gehalten, mildernde Umstände für den Angeklagten in das Urteil einfließen zu lassen - eine Regelung, die jordanische Frauenrechtlerinnen kritisieren.
Auch die palästinensischen Autonomiegebiete verfügen eine moderne Rechtsprechung. In der Praxis gelte diese allerdings nur eingeschränkt, sagt Imtiaz al-Maghrabi. "Die palästinensische Gesellschaft ist von Bräuchen, Traditionen und Religionen geprägt, bei denen diese Faktoren viel mehr zählen als das Gesetz. Gerade Verbrechen, die mit verletzter Ehre zu tun hätten, würden oft nur leicht bestraft.
Motiv Frustration
In der Praxis dürften "Ehrenmorde" weiterhin Bestand haben, meint auch der Soziologe Iyad Barghouthi vom "Ramallah Center for Human Rights Studies" im DW-Gespräch. Ursache dafür sei der Umstand, dass sich der Begriff der Ehre aus männlicher Perspektive nicht mit Begriffen wie Rechtschaffenheit, Integrität oder Erfolg verbunden werde, sondern allein mit dem Ruf der weiblichen Familienmitglieder. Entsprechend groß sei die Bereitschaft, gewalttätig gegen die Frauen vorzugehen, erfüllten sie die männlichen Erwartungen nicht.
Hinzu komme ein in vielen arabischen Gesellschaften vorherrschendes Gefühl von Angst und Frustration. "Diese Gefühle entladen sich dann in Gewalt, oft gegen die weiblichen Familienmitglieder", so Barghouthi. Die schwierigen Lebensumstände machten zwar nicht nur den Männern, sondern auch den Frauen zu schaffen. Doch die Frauen hätten unter dieser Situation gleich doppelt zu leiden.