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Bestechung am Obersten Gerichtshof der Ukraine

17. Mai 2023

Die vom Krieg gebeutelte Ukraine wird derzeit von einem aufsehenerregenden Korruptionsskandal erschüttert. Haben bisherige Justizreformen versagt? Experten bewerten den Fall und werfen einen Blick in die Zukunft.

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Eingang zum Obersten Gerichtshof der Ukraine
Ein Polizist bewacht den Obersten Gerichtshof der Ukraine in Kiew (Archivbild)Bild: Joe Klamar/AFP/Getty Images

Es könnte der bisher größte aufgedeckte Fall von Bestechung in der ukrainischen Justizgeschichte sein. Das Nationale Anti-Korruptions-Büro der Ukraine (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung der Ukraine (SAP) haben den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, Wsewolod Knjasjew und einen weiteren Vertreter des Gerichts, dessen Name nicht genannt wird, am 16. Mai der Korruption in Höhe von rund 2,7 Millionen Dollar überführt.

Beide sind inzwischen festgenommen. Bei einem Schuldspruch drohen ihnen acht bis zwölf Jahre Gefängnis. Laut NABU-Direktor Semen Krywonos sind in den Fall Richter, die Führung des Obersten Gerichtshofs und Vermittler der Unternehmensgruppe "Finanzen und Kredit" des ukrainischen Geschäftsmanns Kostjantyn Schewago, der sich derzeit im Ausland aufhält, verwickelt. 

Portrait von Wsewolod Knjasjew
Die ukrainischen Anti-Korruptions-Behörden erheben schwere Vorwürfe gegen Wsewolod Knjasjew, Vorsitzender des Obersten GerichtshofesBild: Lev Radin/Pacific Press/picture alliance

Während Schewago über seine Pressestelle mitteilen ließ, er habe mit Bestechung im Obersten Gerichtshof nichts zu tun, konkretisierte das Nationale Anti-Korruptions-Büro der Ukraine (NABU) seine Vorwürfe.

"Anhand der durchgeführten Maßnahmen haben wir eine Reihe von Kontakten zwischen dem Inhaber der Gruppe 'Finanzen und Kredit' und dem Inhaber einer Anwaltsvereinigung festgestellt, die der Vertuschung krimineller Aktivitäten dienen sollten. Man hatte sich darauf verständigt, dass hochrangige Gerichtsbeamte für ein Urteil, das der Unternehmer erreichen wollte, illegal belohnt werden." Um welche Anwaltsvereinigung es sich handelt, teilte das NABU nicht mit.

Millionenbeträge für ein bestelltes Urteil?

Die Gerichtsverhandlung für den 15. März angesetzte Gerichtsverhandlung wurde verschoben, "um für die Anhäufung bestimmter Gelder Zeit zu gewinnen und Vereinbarungen zu treffen", erklärte Krywonos. Demnach sollten die Vermittler 900.000 Dollar und Vertreter des Obersten Gerichtshofs rund 1,8 Millionen Dollar von Schewago kassieren.

Am 19. April fällte dann die Große Kammer des Obersten Gerichtshofs ein Urteil zugunsten des Unternehmers und erklärte damit einen Vertrag aus dem Jahr 2002 wieder für gültig. Bei ihm ging es um den Kauf und Verkauf von 40,19 Prozent der Anteile an einem Bergbaukombinat in der ukrainischen Region Poltawa, das dem Konzern Ferrexpo, dem größten Exporteur von Eisenerzpellets des Landes, gehört. Die Anteile des Kombinats sollten auf vier Firmen, ehemalige Aktionäre, übertragen werden.

Am 3. Mai sollen die Beteiligten den ersten Teil und am 15. Mai den zweiten Teil ihrer illegalen "Belohnung" erhalten haben. "Die Führung des Obersten Gerichtshofs wurde auf frischer Tat ertappt", sagt der NABU-Direktor Krywonos. Ermittler hätten bei Durchsuchungen von Wohnungen, Häusern und Büros der Verdächtigen einen erheblichen Geldbetrag gefunden und Beweise sichergestellt, "die die Aktivitäten dieser kriminellen Vereinigung beweisen".

Semen Krywonos und Oleksandr Klymenko bei ihrer Pressekonferenz in Kiew am 16. Mai
Semen Krywonos und Oleksandr Klymenko bei ihrer Pressekonferenz in Kiew am 16. MaiBild: Viacheslav Ratynskyi/REUTERS

Außerdem präsentierten Vertreter von NABU und SAP Aufzeichnungen von Gesprächen der Beteiligten. Die Beamten betonten, dass zwar bisher nur zwei Personen festgenommen worden seien, die Beteiligung weiterer Richter an dem Fall aber noch untersucht werde. Darüber hinaus erklärte SAP-Chef Oleksandr Klymenko, dass die aufgedeckten Straftaten Teil eines noch größeren Korruptionsnetzwerks in den Gerichten sein könnten.

Absetzung des Obersten Richters

Unterdessen berief der Oberste Gerichtshof am 16. Mai in Kiew eine Sitzung ein, in der die Richter erklärten, sie seien "schockiert". Sie verpflichteten sich, entsprechend dem "Prinzip der Selbstreinigung" zu handeln und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.

Ferner sprachen 140 der 142 anwesenden Richter in geheimer Abstimmung dem Vorsitzenden des Gerichts Wsewolod Knjasjew ihr Misstrauen aus. Bis zur Wahl eines neuen Vorsitzenden wird Dmytro Luspentschyk, der Richter mit der längsten Amtszeit, die Aufgaben wahrnehmen.

Hoffnung auf weitere Reformen

"Ich bin überrascht, wie viele Menschen sich wundern, dass es im Obersten Gerichtshof Bestechung gibt. Darauf haben wir vom Gesellschaftlichen Rat für Integrität, der die Besetzung des Obersten Gerichtshofs genau beobachtet hat, immer hingewiesen, schon seit 2017", betonte der Leiter der ukrainischen DEJURE-Stiftung Mychajlo Schernakow im Gespräch mit der DW.

Portrait von Mychajlo Schernakow
Mychajlo Schernakow ist ehemaliger RichterBild: RPR

Er erinnerte daran, dass der Gesellschaftliche Rat längst eine mangelnde Integrität der Richter beklagt habe, doch die damalige Oberste Qualifikationskommission für ukrainische Richter, die über die Besetzung des Gerichts entscheidet, habe dies nicht sehen wollen.

Darüber hinaus wies er darauf hin, dass von den 18 Richtern, die im April für das Urteil im Fall Schewago stimmten, in puncto Integrität zwölf negativ bewertet wurden. "Ich will nicht sagen, dass alle 18, die dieses Urteil gefällt haben, korrupt sind. Aber damit ein Urteil in eine bestimmte Richtung gelenkt werden kann, braucht man eine Mehrheit, die dafür stimmt", betonte Schernakow.

Portrait von Kateryna Ryschenko
Kateryna Ryschenko lobt die ErmittlerBild: TI Ukraine

Kateryna Ryschenko von Transparency International Ukraine glaubt, dass der Fall Knjasjew ein schwerer Schlag für die Ukraine ist, auch im Hinblick auf die Justizreform. "Ich würde nicht sagen, dass dies das Ende der Reformen ist, da dieser Fall ein positiver Indikator für die Arbeit der Antikorruptionsbehörden des Landes ist", sagte sie der DW. Die Behörden würden trotz Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine Ermittlungen durchführen und sich nicht scheuen, auch gegen hochrangige Personen wie Richter des Obersten Gerichtshofs vorzugehen. "Das ist genau das System der gegenseitigen Kontrolle, über das wir seit Jahren reden", erläuterte Ryschenko.

Ihrer Meinung nach sollte man angesichts des jüngsten Bestechungsfalls das Auswahlverfahren für Richter des Obersten Gerichtshofs noch einmal überprüfen. "Dies ist eine weitere Bestätigung dafür, dass die Reformen, insbesondere die Justizreform, fortgesetzt werden müssen", unterstrich Ryschenko.

Unabhängige Gerichte würden eine sehr wichtige Rolle auch beim Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg spielen. "Das erwartet die Gesellschaft im Land, aber auch unsere ausländischen Partner. Wenn wir große internationale Finanzspritzen für den Wiederaufbau wollen, dann müssen wir zeigen, dass unsere Justiz in der Lage ist, all die Verstöße derjenigen zu ahnden, die gierig nach hohen Geldbeträgen greifen, die in die Ukraine kommen."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk.