Das Phänomen Mauerpark
29. August 2012"Oh my darling, you look wonderful toniiight!" Mit aller Inbrunst schmettert Luigi aus Rom den Song von Eric Clapton und fällt vor seiner Freundin auf die Knie. "Möchtest du mich heiraten?", fragt er mit italienischem Akzent. Die Angebetete nickt und hunderte Zuschauer im Amphitheater brechen in Jubel aus. Joe Hatchiban, der Erfinder des Open-Air Karaokes im Berliner Mauerpark, heizt dem Publikum noch mal kräftig ein: "Wer will heute noch heiraten?"
Auch wenn Heiratsanträge die Ausnahme sind - das sonntägliche Karaokesingen im Mauerpark ist längst Kult und steht inzwischen in diversen Berlin-Reiseführern. Vor neun Jahren kam Joe Hatchiban von Irland nach Berlin und baute aus einem Fahrrad, Laptop, Mischpult und Boxen seine mobile Karaoke-Anlage. Sie liefert die melodische Begleitung für jeden, der sich einmal wie ein Star fühlen möchte. Egal ob die Sänger den richtigen Ton treffen oder auch mal den Text vergessen - niemand muss hier Lampenfieber haben, alle werden beklatscht und gefeiert. Der ganze Park ist für ein paar Stunden große Bühne und Party zugleich. "Release your inner Rampensau!" - "Lass deine innere Rampensau raus!" nennt das Joe Hatchiban.
Wo früher Wachtürme standen
Auch Román Gómez und Laura Beas sitzen im Publikum. Vor einem Jahr sind die beiden Studenten aus Barcelona nach Berlin gezogen. "Es ist doch unglaublich, dass in diesem Park mal die Berliner Mauer stand!", sagt Román Gómez. "All diese Menschen hätten sich an diesem Ort niemals treffen können."
Bis 1990 verlief durch den Mauerpark die deutsch-deutsche Grenze. Wachtürme, Zäune und ein Betonwall trennten hier den Westbezirk Wedding vom Ostbezirk Prenzlauer Berg. Von einer Aussichtsplattform auf der Westseite konnten Westbürger neugierige Blicke über die Mauer in den Osten des Landes werfen.
Nur wenige Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands eroberten sich die Berliner das Gebiet zurück. Bürgerinitiativen pflanzten Bäume und verwandelten das ehemalige Brachland in einen belebten Park. Der Entwurf des Landschaftsarchitekten Gustav Lange ließ den Blick frei auf die Silhouette Berlins, auf mächtige Denkmäler und eine dichte Bepflanzung wurde bewusst verzichtet.
Erholungsort für Touristen und Einheimische
Außer im Namen des Parks ist von der Mauer nicht viel übrig geblieben. Lediglich ein Stück der alten Hinterlandmauer erinnert noch an die dunkle Vergangenheit des Ortes. Künstler haben sie inzwischen mit Graffiti besprüht. Wer aufmerksam nach ihnen sucht, findet im Boden der zentralen Pflastersteinstraße vereinzelt auch noch Löcher, in denen einst die Zaunpfähle des Mauerstreifens verankert waren.
Alles andere ist dem bunten Berliner Leben gewichen. Auf der Wiese sitzen Menschen aus allen Teilen der Erde: lachen, picknicken, musizieren. Einige spielen Boule oder Basketball, andere grillen mit der ganzen Familie bis in die späte Nacht. Rund um den Mauerpark haben sich viele kleine Cafés und Restaurants angesiedelt. Die Max-Schmeling-Halle, 1996 in die Mitte des Parks gebaut, ist ein bekannter Veranstaltungsort für Konzerte und Sport-Events geworden.
Feilschen auf dem Flohmarkt
Seit sieben Jahren lockt an Sonntagen der wöchentliche Flohmarkt. In der Mischung aus Retromöbelstücken, selbstbedruckten Berlin-T-Shirts und allerlei Kleinkram lässt sich hin und wieder ein besonderes Stück finden. "Am Anfang kamen vor allem die Einheimischen hierher", sagt Doreen Tarabay. Inzwischen seien es viele Touristen. Die Textildesignerin hat gemeinsam mit der Illustratorin Simone Kroh einen Marktstand, an dem sie selbst entworfene Frühstücksbrettchen, Schlüsselbänder und Schmusetiere verkaufen. "Früher verlief hier eine Grenze, und heute feilschen Petra aus Berlin und José aus Brasilien um den besten Preis. Toll!", sagt Simone Kroh. Genau diese Mischung mache den Reiz aus.
Der Mauerpark ist nicht nur ein Phänomen, er drückt auch eine Haltung aus. Die Bewohner Berlins haben aus dem ehemaligen Grenzstreifen einen Ort gemacht, der nicht mehr trennt, sondern verschiedene Kulturen vereint. An der einst schmerzhaften Wunde der Stadt wird heute ihre Stärke sichtbar.