Beethovens Zehnte aus dem Algorithmus?
9. Dezember 2019Musikwissenschaftler, Musiker, ein Filmkomponist, eine große Telekommunikationsfirma und Informationstechniker arbeiten alle an der Fertigstellung eines Werks, das Beethoven vor seinem Tod nicht mehr vollenden konnte. Das Ergebnis soll im Frühjahr in Bonn uraufgeführt werden. Wir sprachen mit Christine Siegert, Leiterin des Beethoven-Archivs in Bonn, darüber.
Deutsche Welle: Von Beethovens Skizzenbüchern wissen wir, dass er immer wieder Ideen ent- und dann verworfen hat, manchmal mehrfach. Ein Computer kann dagegen vielleicht zehntausende Ideen innerhalb von zwei Sekunden ausprobieren und sich dann für eine entscheiden. Ein Vorteil also für die künstliche Intelligenz. Gibt es aber so etwas wie künstliches Genie?
Christine Siegert: Künstliches Genie sicherlich nicht. Künstliche Intelligenz funktioniert so, dass man Informationen, die man hat, in den Computer eingibt, und der Computer daraus nach Wahrscheinlichkeiten berechnet, wie etwas hätte gewesen sein können. Der Aspekt des Genies ist daher nur bedingt abbildbar. Das gilt besonders für den späten Beethoven, der ja jedes Werk als etwas ganz Individuelles konzipiert hat. Da ist es natürlich schwierig, genau dieses Moment des Individuellen einzubauen. Ich denke, das Ziel des Projekts sollte sein, die vorhandenen musikalischen Fragmente von Beethoven in einen schlüssigen musikalischen Zusammenhang zu stellen. Das ist schon schwierig genug, und wenn das bei diesem Projekt herauskommt, ist dann unglaublich viel erreicht.
Bei Beethoven gibt es diese wunderbaren melodischen und motivischen Eingebungen. Aber die Entwicklung – was Beethoven daraus macht – darin steckt das ganz Besondere. Ist es nicht sehr gewagt zu sagen, ein Rechner könne das einigermaßen hinbekommen?
Ja, das ist gewagt. Andererseits stellt sich die Frage, welche Ansprüche wir an das Ergebnis stellen. Man hat künstliche Intelligenz auch im Bereich der Malerei angewendet. Wir haben in einem Workshop hier im Beethoven-Haus einen Pseudo-Rembrandt gesehen: ein Portrait, das mit künstlicher Intelligenz nach dem Stil von Rembrandt erstellt worden ist. Ich bin nun keine Kunsthistorikerin und keine Rembrandt-Spezialistin, und für mich war der Unterschied nicht erkennbar. Das heißt nicht, dass die Kunsthistoriker und die Rembrandt-Spezialisten den Unterschied nicht erkennen würden.
Ich denke, dass das Ziel sein muss, etwas zu schaffen, was im Stil der Zeit ist – und nicht etwas, von dem die wenigen Beethoven-Spezialisten auf der Welt sagen würden: "Ja, das könnte Beethoven tatsächlich geschrieben haben".
Welche Informationen braucht der Rechner, um im Stil Beethovens zu komponieren?
Die wenigen überlieferten Fragmente vom Beethoven bilden die Ausgangsbasis. Dann gibt man dem Computer als musikalische Grundlage Werke von Beethoven und von seinen Zeitgenossen ein – gerade von denen, die Beethoven geschätzt hat.
Sie sprechen etwas Wichtiges an, denn Beethoven, so individuell wie er war, arbeitete in einem Kontext. Dieser Kontext fehlt zum Beispiel den Komponisten heute, die alles Mögliche machen können und manchmal immer wieder bei null anfangen müssen. Beethoven konnte dagegen auf den Schultern anderer Komponisten sitzen und weiter schauen. Macht es der Computer dann ebenso?
Der Computer macht es ähnlich. Wir haben viel darüber gesprochen, welche Musik man sinnvollerweise verwendet.
Hummel, Mozart, Haydn?
Genau. Auch Cherubini spielt eine Rolle, ein Komponist und ein Zeitgenosse Beethovens, den er sehr geschätzt hat. Auch französische Zeitgenossen. Und dann – schwierig aber wünschenswert – sollte man ein anderes, vollendetes Werk Beethovens nehmen, von dem viele Skizzen überliefert sind, zum Beispiel die Eroica-Sinfonie. Wenn man dann sowohl die Skizzen als auch das Endprodukt eingibt, kann der Computer lernen, wie Beethoven mit Skizzen "weiterdenkt".
Was wissen wir genau über die von Beethoven geplante Zehnte Sinfonie?
Er hat das Werk gemeinsam mit der Neunten Sinfonie begonnen. Beethoven hat gerne Sinfonie-Paare konzipiert, etwa bei der Fünften und Sechsten Sinfonie, ebenso wie bei der Siebten und Achten. Er hat die Neunte vollendet, wollte an der Zehnten weiterarbeiten, ist dann aber gestorben. In seinen Textnotizen erfahren wir, dass er einen Choral in die Sinfonie integrieren wollte. Und er hat sich den letzten Satz als "Feier des Bacchus" vorgestellt. Damit kann ein Computer natürlich nichts anfangen. Es sollte aber offenbar ein extrem freudiges und überschwängliches Stück werden.
Wie viel Beethoven steckt dann im Endprodukt, wie viel vom Computer? Wie wird das Zahlenverhältnis sein? Eins zu fünf? Eins zu sechs?
Eins zu deutlich mehr, der Computer hat viel zu tun! Beethovens musikalische Notizen sind zwischen zwei und etwa dreißig Takte lang, das meiste bewegt sich dazwischen.
Es gibt aber auch eine menschliche Komponente dabei: zum einen den amerikanischen Pianisten und Musikwissenschaftler Robert Levin, er wirkt am Projekt mit. Levin hat Ähnliches gemacht, von Menschenhand natürlich, etwa mit Mozarts Requiem. Er kennt sich extrem gut mit dem Stil der Zeit aus. Dann ist auch ein Musiktheoretiker da, der mit computergestützter Musikanalyse arbeitet. Die großen Strukturen werden von den Kollegen vorgegeben, und der Computer füllt sie dann aus. Die Idee ist, sich auf zwei Sätze zu beschränken.
Welche Rolle spielt das Beethoven-Haus beim Projekt?
Der letzte Workshop dazu hat bei uns stattgefunden. Wir haben auch unsere Expertise, was Skizzenforschung betrifft. Das Projekt wird aber von der Deutschen Telekom finanziert, und die Leitung liegt bei Matthias Röder, dem Direktor des Salzburger Karajan Instituts.
Wird der Computer das dann auch instrumentieren?
Dafür ist ein Filmmusik-Komponist im Projektteam.
Sie sind Beethoven-Forscherin und sitzen mit dem Beethoven-Archiv an der Quelle. Ich unterstelle auch, dass Sie Beethoven-Liebhaberin sind. Hand aufs Herz: Verfolgen Sie das Projekt mit kritischer Distanz, oder steckt auch Begeisterung darin?
Ich verfolge das Projekt mit gespanntem Interesse und werde mir die Uraufführung anhören. Ich bin außerdem überzeugt davon, dass sich auf diesem Gebiet in den nächsten Jahren unglaublich viel tun wird. Soll heißen: Selbst wenn das, was jetzt im Beethoven-Jahr zustande kommt, noch nicht für alle befriedigend sein wird, werden wir in Laufe von wenigen Jahren erstaunt sein, welche Ergebnisse durch künstliche Intelligenz möglich sind.
Das Gespräch führte Rick Fulker.