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Beethovenfest: Was hat Musik mit Demokratie zu tun?

Gaby Reucher
1. Oktober 2024

Mitspracherecht für alle, ein Chor für Minderheiten und vertonte Paragraphen: Zum Jubiläum der deutschen Verfassung und zum Tag der Deutschen Einheit dreht sich beim Beethovenfest alles um das Grundgesetz.

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Menschen mit verschiedenen Hautfarben singen auf der Bühne. Sie sind überwiegend schwarz gekleidet.
Schwarze, indigene Menschen und People of Color haben bei "A Song for You" eine StimmeBild: Nekame Klasohm/Beethovenfest

Seit 75 Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland eine Verfassung, das wird in diesem Jahr gefeiert. Das Grundgesetz steht für Rechte wie die Würde des Menschen, die Gleichheit und die Meinungsfreiheit. Doch Demokratie ist keine Einbahnstraße; sie lebt vom Miteinander in der Politik ebenso wie in der Gesellschaft, in Kunst und Musik. "Unsere Erfahrung ist, dass Kultur und Musik eine Art Raum für viele Menschen bieten, die sich heillos streiten würden, wenn es um andere Themen geht", sagte Intendant Steven Walter in einer Debatte zur Zukunft der Demokratie und der Verantwortung in der Kultur.

Blätter aus dem Grundgesetz mit Paragraphen der deutschen Verfassung hängen an der Wand eines kleinen Raums.
Die Wände sind mit dem Grundgesetz gepflastert - eine Veranstaltungsbühne beim Bonner Beethovenfest setzt das Motto "Demokratie" auch optisch umBild: Gaby Reucher/DW

Dass Musik Völker verbindet und dass gerade Ludwig van Beethoven, dessen Neunte Sinfonie in diesem Jahr 200. Jubiläum feiert, für Themen wie Freiheit, Miteinander und Gleichheit steht, wird immer wieder gerne hervorgehoben. Dass aber Musik für sich gesehen einen Beitrag zur Demokratie leisten kann, scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich. Ein Beispiel sind basisdemokratische Orchester, die ein Miteinander und produktive Auseinandersetzungen vorleben - was in der großen Politik oft schwerfällt.

Die Demokratie im eigenen Orchester

Das Hamburger Ensemble Resonanz, das beim Beethovenfest auftritt, ist solch ein basisdemokratisches Orchester. "Im Plenum treffen wir Grundsatzentscheidungen und haben alle die gleiche Stimme", sagt Tim-Erik Winzer, erster Bratschist des Ensembles, im Gespräch mit der DW. "Die großen Richtungsentscheidungen, mit welchen Künstlern wollen wir uns langfristig verbinden, welche Repertoirerichtung wollen wir einschlagen, wie verhalten wir uns in bestimmten Situationen gesellschaftlich-politisch - das sind Sachen, die wir im Plenum besprechen und entscheiden."

Gruppenbild: Männer und Frauen Mit Streichinstrumenten stehen auf einer Bühne
Das Ensemble Resonanz funktioniert basisdemokratischBild: Tobias Schult

Wie in einem Parlament gibt es beim Ensemble Resonanz auch verschiedene Mandate, einzelne Personen oder kleinere Gruppen kümmern sich um bestimmte Themen. Die 21 Mitglieder wählen diese Mandatsträger alle zwei Jahre. Tim-Erik Winzer ist bereits fünf Mal zum dramaturgischen Vorstand gewählt worden. Er entscheidet zusammen mit dem Geschäftsführer, welche Stücke auf den Spielplan  kommen. Dabei reicht das Repertoire von klassischer bis hin zu neuer elektronischer Musik. Die Mitglieder arbeiten mit choreografischen Elementen und experimentieren mit künstlicher Intelligenz.

Von Dirigenten, mit denen sie arbeiten, erwarten die Mitglieder einen respektvollen Umgang. Das basisdemokratische Ensemble lebt von den eigenen Einnahmen, von öffentlichen Geldern und privaten Spenden. Eins ist Ihnen dabei wichtig: "Die öffentlichen Gelder, die wir bekommen, sind nicht so hoch, dass ein Kultursenator bei uns Einfluss nehmen könnte", so Winzer.

Vielfalt miteinander leben

Das Grundgesetz verbietet in Artikel 3 jede Form von Diskriminierung wegen der Heimat und Herkunft oder der Sprache eines Menschen. Außerdem gibt es ein Übereinkommen des Europarats zum Schutz vor Diskriminierung nationaler Minderheiten.

Dass solche Minderheiten auch in der Musik sichtbar werden, dafür sorgt das Gesangskollektiv "A Song For You". Schwarze, Indigene und People of Color (BIPoC) singen gemeinsam im Chor und arbeiten mit Künstlerinnen und Künstlern aus den Bereichen Tanz und Musik zusammen. "Wir verkörpern das Miteinander. Wir sind vielfältige Individuen, die in einer schnelllebigen Stadt leben und Spaß am gemeinsamen Singen haben", sagt Noah Slee, Mitbegründer des Vokalensembles, das über 50 Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt vereint.

Leute tanzen auf der Bühne, ein Mann hat ein Mikrofon in der Hand.
Rap mit Noah Slee zur Soulful Missa - Der Chor singt und tanzt dazuBild: Nekame Klasohm/Beethovenfest

Noah Slee stammt aus Neuseeland. Als er 2016 nach Berlin kam, fehlte ihm das kollektive Singen. "In meiner polynesischen Heimat wird sehr viel gemeinsam gesungen", erzählt er im Gespräch mit der DW. In Deutschland haben man früher auch gemeinsam Volkslieder gesungen. "Aber es ist nicht Teil des Alltagslebens, so wie ich es von dort kenne, wo ich aufgewachsen bin. In der Schule haben wir alle zusammen auch indigene Lieder gesungen."

Minderheiten eine Stimme geben

Mit Soul-Gesang, HipHop und Jazz bietet "A Song For Yuo" eine Plattform für die unterrepräsentierten Stimmen der People of Color. "Unsere Intention ist, dass Leute, die so aussehen wie wir, in der Kunst stärker vertreten sind und dass sie Geschichten erzählen aus ihrer eigenen Perspektive", sagt Slee.

Eine Video zeigt eine stark geschminkte Frau mit geschlossenen Augen in einem Kirchenraum.
Gedanken zu Beethovens Missa Solemnis im VideoBild: Nekame Klasohm/Beethovenfest

Mit ihrer Show "A Soulful Missa" - in Anlehnung an Beethovens "Missa Solemnis" - haben die Sängerinnen und Sänger beim Beethovenfest ihre eigenen Geschichten von Glaube und Hoffnung in Gesang, Tanz und in Videoeinspielungen zum Ausdruck gebracht. Begleitet wurden sie dabei vom Beethovenorchester unter der Leitung von Dirk Kaftan.

75 Jahre Grundgesetz in Wort und Klang

Am 3. Oktober wird der Tag der Deutschen Einheit gefeiert - der Tag, als die ehemalige DDR 1990 der Bundesrepublik beitrat. Seitdem gibt es nur noch ein Deutschland und die Verfassung ist für alle gültig. An Orten der Demokratie der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn wird es zum Abschluss des Beethovenfestes ein großes Musikfest geben - etwa am Platz der Vereinten Nationen oder in den Plenarsälen des Bunderates und des Bundestags. "Es ist bewusst niedrigschwellig", erklärt Intendant Steven Walter der DW. Jeder könne an Eintritt zu den Veranstaltungen das zahlen, was er mag. "Die einzelnen Programme beziehen sich inhaltlich und dramaturgisch auf Artikel des Grundgesetzes."

Beim Mandelring Streichquartett im Plenarsaal des Bundesrates geht es zum Beispiel um den Paragraphen 20 des Grundgesetzes, die Wahlfreiheit. Das Publikum darf aus einem Spektrum von Musikstücken selbst auswählen, was gespielt wird.

Cellist spielt mit Helm und Gasmaske bei einer Demonstration.
Gezi-Park-Protest 2013 mit Cello: Helm und Gasmaske als symbolischer Schutz gegen PolizeigewaltBild: Marco Longari/AFP/Getty Images

Zu Paragraph 5, der Meinungsfreiheit, spielt der türkische Komponist und Pianist Fazil Say seine Klaviersonate "Gezi Park 2". 2013 hatten Menschen in Istanbul zunächst gegen eine Bebauung des Parkgeländes demonstriert, später wurde der Gezi-Park zu einem Symbol des Widerstandes gegen Polizeigewalt und das türkische Regierungssystem unter Erdoğan.

Die Europäischen Grenzen dicht machen?

Das Ensemble Resonanz gestaltet mit Beethovens dritter Sinfonie, der "Eroica", musikalisch den Paragraphen 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Abwechselnd erklingen Teile aus der Sinfonie mit Texten über die "Sea-Watch 3" - jenem Boot, das 2021 wochenlang mit Geflüchteten umherfuhr, weil kein Europäisches Land das Schiff in seinen Hafen ließ.

Schiff mit  Migranten treibt auf dem Meer.
Das deutsche Schiff Sea-Watch 3 trieb Wochen vor den Küsten Europas, um Geflüchtete an Land zu bringenBild: Nora Bording/Sea-Watch/AP/picture alliance

"Die Eroica hat etwas Heldenhaftes und auch Tragisches", sagt Tim-Erik Winzer. Gleichzeitig sei Beethoven ein großes Symbol für die europäischen Werte wie Freiheit und Gleichheit, die sehr stark verbunden seien mit der europäischen Idee. "Im Wechsel mit den Texten zeigt das, inwiefern solche Situationen wie auf der Sea-Watch die Werte von Europa infrage stellen, und uns nachdenken lassen, wie wir eigentlich mit uns selbst und den Menschen um Europa herum umgehen können."