Rouvali debütiert bei den Philharmonikern
22. September 2019Es macht nicht nur Spaß, seine Musik zu hören, sondern auch, ihm zuzuschauen: Der finnische Dirigent Santtu-Matias Rouvali bewegt sich am Pult wie ein Tänzer. Die langen blonden Locken fliegen, von den muskulösen Schultern zu den Fingerspitzen bewegen sich die Arme flexibel wie Tentakel, musikalische Inhalte spiegeln sich in jeder Regung seines schmalen Körpers, in jedem Gesichtsausdruck wieder.
Um eine Analogie zu verwenden: Wenn ein Durchschnitts-Dirigent in seiner Körpersprache einen Wortschatz von 300 Wörtern hat, liege dieser bei Rouvali eher bei 3.000. Das überrascht nicht, wenn man erfährt, dass der jetzt 33-Jährige seine Karriere als Schlagzeuger in Sinfonieorchestern begonnen hat, ehe er sich im Alter von 22 Jahren doch für den Dirigentenberuf entschied.
"Als Perkussionist lernt man, Hände und Beine unabhängig voneinander zu bedienen", erklärt Rouvali im DW-Gespräch. "Sie können unterschiedliche Dinge tun. Sogar dein Mund kann ein Ausdrucksmittel sein. Die Noten in der Partitur sind nur Hinweise. Der Rest kommt von mir. Deshalb muss ich mich so viel bewegen. Wenn ich nur den Rhythmus klopfe und die Noten einfach spielen lassen würde, käme ich nicht ins Schwitzen – und das wäre langweilig."
Junger Dirigent trifft auf Traditionsorchester
Auch mit den New Yorker Philharmonikern und dem Concertgebouw-Orchester Amsterdam gibt Santtu-Matias Rouvali in dieser Saison sein Debüt. Und ins Schwitzen ist er bei seinem Einstand mit den Berliner Philharmonikern ( 20. September 2019) tatsächlich gekommen. Musik von Sibelius, Ravel und dem finnischen Komponisten Uuno Klami stand auf dem Programm.
Die Berliner, die erst unlängst den Chefdirigenten gewechselt haben – Kirill Petrenko trat vor wenigen Wochen offiziell die Nachfolge von Sir Simon Rattle an – besinnen sich neuerdings verstärkt auf ihre Tradition. Bekannt ist, dass sie es jedem Neuling am Dirigentenpult nicht leicht machen. Und gerade einem nicht, der eine atemberaubende Karriere hingelegt hat.
Nach nur 11 Dirigentenjahren ist Rouvali bereits jetzt schon Chefdirigent von zwei Orchestern: des Philharmonischen Orchesters in Tampere - unweit seines finnischen Heimatsortes und der Göteborger Sinfoniker in Schweden. Hinzu kommt eine intensive Zusammenarbeit mit dem renommierten Philharmonia Orchestra London. Ab 2021 wird er dort ebenfalls Chef-Dirigent.
Allem zum Trotz war deshalb etwas Spannung während der Probenzeit spürbar, als läge der Spruch in der Luft: "Wer ist denn dieser 33-Jährige, der uns sagen will, wie wir zu spielen haben?" Der Bratschist der Berliner Phliharmoniker, Martin Stegner, bestätigte: "Junge Dirigenten haben es mit uns nicht immer leicht."
Seinerseits nach dem Orchester gefragt, spielte Rouvali das etwas herunter: "Ja, es ist ein gutes Orchester, denke ich." Nach so viel überschwänglichem Lob von anderen, die mit diesen hoch professionellen Musikern gearbeitet haben, klang seine Bewertung erfrischend und entwaffnend.
Es sind aber auch die Musiker, die ihre eigenen Prioritäten setzen. "Sie wollen sich Zeit nehmen, ihren eigenen Klang zu entwickeln", sagt Rouvali. "Für sie kommt die Klangqualität, die Herstellung und Intonation des Klangs, an erster Stelle. Der Rhythmus kommt erst danach."
Dirigent und Orchester mussten sich offenbar irgendwo in der Mitte treffen: "Ich muss hören, was kommt", erklärt er im DW-Interview. "Dann entscheide ich, ob es gut genug ist, ob ich einen Kompromiss eingehen muss, oder ob ich von ihnen mehr verlangen sollte. Es ist wichtig, dass die Musiker einem Vertrauen schenken. Ich glaube, sie haben es."
Aufführung ohne Kompromisse
Das Ergebnis klang keinesfalls wie ein Kompromiss. Von den melancholischen, beseelten Melodien in der Kalevala-Suite des finnischen Komponisten Uuno Klami über die freche Spielfreude im Klavierkonzert G-Dur von Maurice Ravel (mit der Solistin Alice Sara Ott) bis hin zum metaphysischen Kampf in der Sinfonie Nr. 1 von Jean Sibelius – es schien, als ob Dirigent und Orchester ihr Ganzes gegeben haben.
Sehr präsent war die sprichwörtliche Tonqualität des Berliner Orchesters: Besonders bei den Streichern, den Holzbläsern und im Blech war der Klang stellenweise atemberaubend – aber auch im rhythmischen Drive. Die Interpretation war stimmig: Selten hat man als Zuhörer musikalische Geschichten so beredt erzählt gehört.
Finnland in der Philharmonie
Zeitgenössische klassische Musiker aus Finnland haben derzeit überall Konjunktur: Die Dirigenten Esa-Pekka Salonen, Sakari Oramo und Jukka Pekka Saraste, der Sänger Matti Salminen, die Violinisten Pekka und Jaakko Kuusisto und die Komponisten Magnus Lindberg, Kaija Saariaho und Einojuhani Rautavaara kommen alle aus einem Land, dessen Bevölkerungszahl bei nur 5,2 Millionen liegt.
Woran das liegt? "Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich habe es immer mit unserer Lage zwischen West und Ost erklärt", sagt Rouvali gegenüber der DW. "Wir haben slawisches Temperament wie die Russen. Andererseits sind wir den Skandinaviern, und damit auch der westlichen Welt, angebunden. Wir sind etwas ungehobelt, halten uns für anders, und unser Humor und unser Verhalten sind auch manchmal, sagen wir mal, ungewöhnlich. All das fließt in auch in unsere Musikalität hinein."
Wo auch immer der junge Dirigent beschäftigt ist, Finnland ist nicht weit weg, zumindest in seinem Kopf. Neben drei Dirigentenposten findet Rouvali auch Zeit für das, was er seinen "vierten Posten” nennt: die Auszeit zu Hause. Dort fährt er Traktor, geht Angeln und auf die Jagd. Und er entspannt sich in der finnischen Sauna und spielt intensiv mit seinem kleinen Sohn. "Auf diese Weise entspanne ich mich, vergesse die Musik, und kann dann natürlich und normal sein – irgendwie", sagt er mit einem lauten Lacher.
Und sein Debüt mit den Berliner Philharmonikern? Es ging weit über Rouvalis untertriebener Vorhersage hinaus: "Ich bin sicher, es wird eine nette Erfahrung sein." Es war ein Erlebnis.