Bürgerrat soll Demokratie helfen
12. September 2019Die Abgeordneten im Bundestag sollen durch Bürger aus allen Bevölkerungsschichten neue Anregungen erhalten. Dadurch sollen die Politiker Entscheidungen treffen, die möglichst viele Menschen mittragen, so die Grundidee des Vereins "Mehr Demokratie". Dieser Verein setzt sich bereits seit 1988 für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung ein. Solche direkten Einflussmöglichkeiten existieren zwar in allen Bundesländern. Nur auf Bundesebene verweigerte die CDU als einzige Partei im Bundestag bisher ihre Zustimmung. Dies könnte sich nun ändern. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble jedenfalls unterstützt die Aktion und wird die Ergebnisse des Bürgerrats am 15. November am "Tag für die Demokratie" entgegennehmen.
Zuvor kommen im September in Leipzig 160 Bürger aus dem ganzen Bundesgebiet zusammen, die nach Vorschlägen aus den Kommunen per Los ausgewählt wurden, 80 Frauen und 80 Männer. Sie sollen repräsentativ für die deutsche Bevölkerung sein. Schließlich ist geplant, dass der Bürgerrat einmal eine ständige Einrichtung als Ergänzung zum Parlament wird. Vorbild ist Irland. Hier wurden gute Lösungen gefunden zwischen Befürwortern und Gegnern der Ehe für Homosexuelle. In der Streitfrage wurden über den Bürgerrat aus politischen Gegnern Freunde.
Beispiele der "Auserwählten"
Wer sind die Menschen, die nun dem deutschen Bürgerrat angehören? Da ist zum Beispiel Gudrun Dribusch:
"Ich hoffe, dass ein bisschen mehr soziale Wärme in die Politik einzieht und dass es Menschen, denen es nicht so gut geht, mehr Unterstützung erfahren", so die 68-jährige, die auf ein sehr erfülltes Leben blickt. "Kinder brauchen eine größere Lobby", sagt die Frau, die zwar selbst nicht Mutter ist, aber aus ihrer Arbeit Verbesserungsvorschläge mitbringt.
Die gelernte Krankenschwester holte ihr Abitur neben ihrem Job nach und studierte in Hamburg Betriebswirtschaft mit dem Schwerpunkt "Pflege-Ökonomie". Dieses Fach lehrte sie in Neubrandenburg auf einer Professorenstelle und machte sich zwölf Jahre vor ihrer Rente als Beraterin für Pflegeeinrichtungen selbstständig.
"Trotz aller Hektik muss die heutige Arbeitswelt menschlich bleiben", meint sie. "Ein persönliches Gespräch ist keine Zeitverschwendung, sondern erleichtert das Miteinander", sagt Dribusch. Es werde viel zu wenig miteinander gesprochen, und daher rühre es auch, dass Politiker zu wenig von den Sorgen und Nöten der Bürger wüssten.
Am Anfang stand Skepsis
An den Moment, als sie den Brief des Vereins "Mehr Demokratie" mit der Einladung zum Bürgerrat 2019 las, erinnert sich die Hamburgerin noch genau: "Erst dachte ich, die Rechten würden hier versuchen, unter Vorwänden mit uns ins Gespräch zu kommen", gibt Gudrun Dribusch zu und recherchierte sofort im Internet. Die Tatsache, dass Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Aktion unterstützt, habe sie dann beruhigt.
Dass sich durch den Bürgerrat viel in der Politik verändern werde, glaubt sie nicht. Dennoch gelte: "Politiker dürfen nicht immer nur im eigenen Saft bleiben." Wenn sich mit kleinen Anregungen von "ganz normalen Bürgern" ein wenig verbessern würde, wäre das schon ein großer Erfolg.
Mit dabei ist auch Marvin Giehl. Der 27-jährige beschreibt sich als liberal, aufgeschlossen und positiv. Zusammenhalt in der Familie sei ihm wichtig. Er treibe gerne Sport; Basketball und Turnen liebe er. Im persönlichen Gespräch fällt auf, dass er seine Worte oft sehr sorgfältig abwägt.
Giehl arbeitet an der Technischen Universität Dortmund als wissenschaftlicher Assistent. Am Lehrstuhl für systematische Erziehungswissenschaft beschäftigt er sich mit der Frage, wie man Bildung gestalten kann. Demnächst will er in Kyoto an einem Workshop teilnehmen, bei dem es um den Unterschied zwischen dem Bildungswesen in Deutschland und Japan geht. Zusätzlich sitzt er an seiner Doktorarbeit. Sie soll in vielen Interviews ergründen, warum sich Menschen entscheiden, künftig statt Fleisch lieber nur noch Gemüse zu essen.
Eine Idee begeistert
Die Einladung zum Bürgerrat sei für ihn wie ein "Sechser im Lotto" gewesen. "Unter so vielen Menschen ausgewählt zu werden, das verpflichtet doch mitzumachen", sagt der junge Mann, der zugibt, dass der Politikunterricht zu Schulzeiten sein Interesse nicht geweckt habe. Er sei auch nicht regelmäßig zu Wahlen gegangen. Jetzt aber selbst tätig zu werden, das spiele eine ganz andere Rolle. "Wenn es in den nächsten Wochen darum geht, Bedürfnisse, Wünsche und Meinungen der Bevölkerung stichprobenartig in Erfahrung zu bringen und für den Bundestag abzubilden, dann ist das schon eine richtig gute Sache", findet er.
Ganz unkritisch sieht er die Aktion allerdings nicht. "Wenn künftig immer nur dieselben 160 Leute mitreden sollten, dann geht das für mich gar nicht. Da muss ein ständiger Wechsel aus der Bevölkerung her." Wenn sich im Berliner Regierungsviertel aber das Denken durchsetzen sollte, "Bürger immer mehr mit ins Boot der Politik" zu holen, wäre das eine schöne Entwicklung, auch als Maßnahme gegen politische Extremisten links und rechts. Aus seinen vielen Auslandsaufenthalten kennt er andere Verhältnisse. "Da bin ich schon froh, dass ich hier in Deutschland aufgewachsen bin und meine Meinung frei äußern darf." In diesem Zusammenhang lobt er die Bewegung "Fridays for Future". "Was Schüler da auf die Beine stellen, ist großartig". Diese Meinung teilen sehr viele derer, die sich am kommenden Wochenende in Leipzig einfinden werden.