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Jüdisch-russische Einwanderung

16. März 2010

Knapp eine Viertelmillion Juden mit sowjetischem Pass haben nach 1989 in Deutschland eine Zukunft gesucht. Welche Erfahrungen sie in der neuen Heimat gemacht haben, zeigt jetzt erstmals eine Ausstellung in Frankfurt.

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Plakat der Ausstellung "Ausgerechnet Deutschland"; Russisch-jüdische Einwanderung in die Bundesrepublik
Bild: Jüdisches Museum Frankfurt/M

Als Dmitrij Belkin 1993 aus der Ukraine in die Bundesrepublik kam, lagen turbulente Zeiten hinter ihm. Die Sowjetunion war zusammengebrochen und die postsowjetischen Staaten befanden sich in einem schwierigen Entstehungsprozess. Belkin und andere so genannte Kontingentflüchtlinge wurden mit einem Quotenschlüssel auf deutsche Städte und Städtchen verteilt. Den 22-jährigen jüdischen Emigranten verschlug es in die schwäbische Provinz und er empfand vor allem eines: "Leere und Nostalgie. Ich konnte mir nicht vorstellen, hier zu bleiben. Ich wollte entweder in eine Großstadt oder wieder weg."

Fotos, Reisepässe und Karten

Belkin ist bis heute in Deutschland geblieben, er hat studiert, wurde promoviert, arbeitet als Historiker. Jetzt hat er die Schau "Ausgerechnet Deutschland!" kuratiert. Wenn Belkin durch die Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt geht, ist es, als schreite er seine eigene Biografie ab.

Auf dem Amt", zu sehen im Jüdischen Museum Frankfurt in der Ausstellung "Ausgerechnet Deutschland"***Das Bild darf nur im Zusammenhang mit der Ausstellung genutzt werden
Viele der Emigranten verbrachten Stunden auf den ÄmternBild: Jüdisches Museum Frankfurt/M

Fotos, Reisepässe und Landkarten dokumentieren: Zehntausende wollten seit dem Ende der achtziger Jahre weg, unsichere Verhältnisse hinter sich lassen, in Deutschland neu beginnen. Sie kamen aus den Metropolen und aus entlegenen Ecken der damaligen Sowjetunion. Sie hatten schwierige Antragsprozeduren und tagelange Busreisen hinter sich.

Heimweh und Hoffnungen

Die Frankfurter Ausstellung thematisiert Ängste und Heimweh, Hoffnungen und Enttäuschungen der Neuankömmlinge. Sie zeigt den anrührenden Zettel, auf den eine betagte Emigrantin in winziger Schrift deutsche Worte notiert hat – für den Tag ihrer Ankunft im fremden Land. Fotos von Notunterkünften und Wohnheimen, die Installation einer engen Amtsstube, persönliche Erinnerungsstücke, Plakate, Texte und Stimmen legen Zeugnis ab von den Problemen des Einlebens, aber auch von seiner heiteren, zuweilen komischen Seite.

Flüchtlingswohnheim": Foto zu sehen im Jüdischen Museum Frankfurt/Main, in der Ausstellung "Ausgerechnet Deutschland
Haarschnitt gefällig? Auch im Flüchtlingswohnheim wird frisiertBild: Jüdisches Museum Frankfurt/M

Es gibt aber auch Erfolgsgeschichten: Auf Porträtfotos sieht man ehemalige Kontingentflüchtlinge, die Ärzte, Banker, Designer, Polizisten geworden sind. Meist sind dies die Kinder aus der zweiten Generation. Für die bis dahin unter Überalterung leidenden jüdischen Gemeinden in Deutschland brachte der Exodus aus der ehemaligen Sowjetunion Zuwachs, aber auch soziale und kulturelle Probleme.

Wer ist Jude?

In den Herkunftsländern der neuen Gemeindemitglieder war "jüdisch" keine religiöse, sondern eine im Pass vermerkte ethnische Kategorie. Nach dem Religionsgesetz indes ist nur Jude, wer eine jüdische Mutter hat. "Das ist das große Problem dieser Migration. Deswegen sind mehr als 70 Prozent der Migranten gerade nicht in den Gemeinden heute. Weil sie nicht eintreten können. Weil sie keine jüdische Mutter vorweisen können", erläutert Dmitrij Belkin.

Zoya Cherkassky "Together": Zu sehen in der Ausstellung "Ausgerechnet Deutschland
Im Warteraum der Behörden sind alle gleichBild: Jüdisches Museum Frankfurt/M

Seit 2005 ist die jüdische Zuwanderung weitgehend zum Erliegen gekommen. Der Grund: Das neue Einwanderungsgesetz. Die Juden aus der einstigen Sowjetunion sind seither keine Kontingentflüchtlinge mehr mit einem Anspruch auf Einwanderung, sondern Einwanderer wie andere auch. Sie müssen sich hier selbst versorgen können, ausreichend Deutsch sprechen und - vor allem - zumindest potentiell Gemeindemitglied werden können. Dmitrij Belkin sagt: "Am besten ist man jung, jüdisch und Computerspezialist. Und man spricht deutsch." Voraussetzungen, die die wenigsten heute noch Ausreisewilligen erfüllen können.

Veteranen": Zu sehen in der Ausstellung "Ausgerechnet Deutschland"***Das Bild darf nur im Zusammenhang mit der Ausstellung genutzt werden
Auch in Deutschland sind die jüdischen Veteranen stolz auf ihre AuszeichnungenBild: Jüdisches Museum Frankfurt/M

Ohnehin ist der Auswanderungsdruck jetzt nicht mehr so hoch, erklärt der Kurator. Die Verhältnisse hätten sich auch für Juden - trotz eines verbreiteten gesellschaftlichen Antisemitismus - in den osteuropäischen Ländern verbessert, neue Gemeinden seien entstanden und damit auch Möglichkeiten, jüdische Kultur zu leben.

Angekommen in Deutschland

Für die, die bereits hier sind, haben sich die Dinge in gewisser Weise normalisiert, sagt Dmitrij Belkin. "Zur Bilanz gehört: man wird jetzt mit den normalen Fragen eines Migranten in Deutschland konfrontiert. Also, wie komme ich klar mit diesem Land, mit der Sprache, was machen meine Kinder. Das Leben hier wird zunehmend normal." Dies gilt auch für Dmitrij Belkin selbst. Er hat in Deutschland eine Perspektive gefunden. Aber, so sagt er: "Ich fahre immer noch regelmäßig in die Ukraine."

Eindrucksvoll zeigt die Frankfurter Ausstellung , dass die einstigen Kontingentflüchtlinge Deutschland auf vielfältige Weise bereichert haben – wenn auch oft jenseits der öffentlichen Wahrnehmung. In den Gemeinden haben sie jüdisches Leben zum Blühen gebracht. Die deutsche Gesellschaft aber haben sie bunter und interessanter gemacht.

Autorin: Cornelia Rabitz
Redaktion: Petra Lambeck