Aufklärung in Vietnam dringend notwendig
19. April 2016Mit dem Finger wischt Bui Dong Thanh durch die Fotos auf ihrem Smartphone und lacht: "Schau! Sind meine Kinder nicht toll?" Thanh hat zwei Töchter, acht und fünf Jahre alt. Auf den Bildern sieht man sie feiern, spielen, kuscheln. Thanh hat endlos viele Momente der Mädchen festgehalten.
Längst nicht alle Eltern in Vietnam freuen sich allerdings so überschwänglich über Töchter wie Thanh. In der Geburtenstatistik macht sich deshalb ein steigendes Geschlechter-Ungleichgewicht bemerkbar: Laut einem Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) kommen auf 100 Mädchengeburten 112,5 Jungengeburten. Der im weiter verbreitete Zugang zu Ultraschalluntersuchungen führt zur gestiegenen Abtreibungen weiblicher Föten, die sich in dieser Statistik niederschlagen. Schätzungen rechnen im Jahr 2050 mit einem Männerüberschuss von zwei bis vier Millionen. Männer, die aufgrund des Geschlechter-Ungleichgewichts keine Frau zum Heiraten finden werden. Als Resultat sind laut dem UNFPA-Bericht "problematische Konsequenzen zu erwarten, wie Zwangsheirat, Menschenhandel, alle Formen von Gewalt gegen Frauen und soziale Unruhen durch gesellschaftliche und sexuelle Frustrationen bei Männern." Diese zeigen sich in schärferer Form bereits im Nachbarland China. Vietnam hat seine Zwei-Kind-Politik nie so rigide durchgesetzt wie China die Ein-Kind-Politik, jedoch sind in vietnamesischen Familien zwei Kinder die Norm.
Söhne als Altersvorsorge
In Vietnam ziehen immer noch viele Paare ein Sohn einer Tochter vor, und spätestens während der zweiten Schwangerschaft wünschen sie sich sehnlichst einen Sohn. Der Grund: In der konfuzianisch geprägten vietnamesischen Gesellschaft wird von den Söhnen erwartet, die Familienlinie zu erhalten und sich im Alter um ihre Eltern und die Ahnenverehrung zu kümmern. Frauen hingegen verlassen bei der Heirat ihr Elternhaus und leben traditionell im Haus der Schwiegereltern. So weist die Tradition einer Tochter einen niedrigeren sozialen Status zu.
"Es denken zwar nicht mehr alle Familien so, aber es stimmt, dass immer noch viele Frauen unter Druck geraten, wenn sie keinen Sohn gebären", sagt Thanh. "Sie fürchten, von ihren Männer verlassen zu werden und ihre Pflicht gegenüber ihrer Schwiegereltern nicht zu erfüllen. Denn traditionell können sich nur männliche Nachkommen um den Altar für die verstorbenen Ahnen kümmern." Sie selbst, eine erfolgreiche, unabhängige Geschäftsfrau, die in Vietnams Hauptstadt Hanoi zwei Restaurants führt, setzt sich selbstbewusst darüber hinweg: "Ja, ich bin anders. Ich sage allen: Meine Kinder habe ich für mich, nicht für andere. Niemand hat das Recht, über mich zu bestimmen."
Abtreibung bis zur 22. Woche erlaubt
Die vietnamesische Regierung nimmt das Problem des Geschlechter-Ungleichgewichts ernst. Doch es ist schwierig mit Gesetzen gegen alte, tief verwurzelte Werte und Traditionen vorzugehen. Ärzten ist es zwar offiziell verboten, Eltern vor der Geburt über das Geschlecht des Kindes zu informieren, doch das Gesetz zeigt wenig Wirkung. Ein im vergangenen Jahr angedachter Entwurf einer Gesetzesänderung, wonach Abtreibungen schon nach der 12. Schwangerschaftswoche verboten werden soll statt erst nach der 22. Woche, wurde von zahlreichen Experten kritisiert. Auch die Nichtregierungsorganisation Marie Stopes Vietnam, die sich für eine bessere Beratung und Betreuung in der Familienplanung einsetzt, sprach sich dagegen aus. Bei Verboten würden Frauen auf illegale Abtreibungen ausweichen, mit gefährlichen Folgen, sagt die Leiterin der Organisation in Vietnam, Nguyen Thi Bich Hang. "Wir wissen, dass in Ländern, in denen die Gesetze zur Abtreibung restriktiv sind, die Kinder- und Müttersterblichkeit höher ist."
Nach offiziellen Angaben treiben Frauen in Vietnam im Durchschnitt 2,5 Mal in ihrem Leben ab. Die hohe Abtreibungsrate sei aber längst nicht nur auf die Sohn-Präferenz zurückzuführen, sagt Hang. Der Hauptgrund liege am ungenügenden Zugang zu Verhütungsmitteln. Die in Vietnam mit Abstand am weitesten verbreitete, erreichbare zuverlässigste Methode ist die Spirale. Doch rund ein Drittel der Nutzerinnen setzen diese Methode bereits nach ein bis zwei Jahren wieder ab und geben gesundheitliche Bedenken dafür an. "Es scheitert hier an der mangelnden längerfristigen Beratung", sagt Hang. Alternativen wie Injektionen, Pille oder Kondome seien für viele entweder zu kostspielig oder unwirksam, weil sie falsch oder nicht konsequent genutzt würden. Laut Marie Stopes sind rund 26 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter auf regelmäßige Gesundheitsvorsorge angewiesen.
"Pille danach" als Verhütungsmethode
Nach einer neueren Umfrage von Marie Stopes quer durch verschiedene Regionen und Gesellschaftsschichten nutzen in Vietnam 32 Prozent der Frauen keine Verhütungsmittel. Auch Mythen über gesundheitliche Gefahren spielten dabei eine Rolle, so Hang. Die Hindernisse seien so unterschiedlich wie die betroffenen Gesellschaftsgruppen. Marie Stopes kümmert sich beispielsweise um Fabrikarbeiterinnen aus ländlichen Gebieten. Diese lebten meist weit weg von ihrer Familie, sehnten sich nach Geborgenheit und wüssten wenig bis nichts über Verhütung.
Ein neueres Phänomen beobachtet Hang bei jungen Frauen: Mehr und mehr hätten die "Pille danach" für sich entdeckt, die in den Städten relativ einfach ohne ärztliche Beratung zu beschaffen sei. Zwar gebe es keine statistischen Erhebungen, aber einiges deute darauf hin, dass die Pille danach der normalen Verhütungspille sogar den Rang abläuft und viele junge Frauen diese Methode vorziehen. Die Stigmatisierung von vorehelichem Sex wirke als Barriere zum Zugang zu Verhütungsmitteln und ärztlicher Beratung. Zudem sei einiges an Aufklärung über Verhütung nötig; nicht nur an den Schulen, wo das Thema reichlich spät auf dem Lehrplan stehe, sondern in allen Teilen der Gesellschaft, auch in den Massenmedien, sagt Hang.
Thanh sagt, dass sie mit ihren beiden Töchtern schon früh über Verhütung sprechen will. "Sie müssen rechtzeitig Bescheid wissen. Und ich möchte, dass sie nicht nur ihre Familie zufriedenstellen, sondern zu einem nützlichen Teil der ganzen Gesellschaft werden. Dass sie so werden wie ich: Sie sollen ihr eigenes Geld verdienen, und ins Ausland reisen, um über den Tellerrand zu sehen. Dann können sich die Dinge ändern, in den Köpfen der jungen Generation."