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Atomwaffen: Deutschlands Gratwanderung

31. März 2023

Deutschland selbst hat keine Atomwaffen - ist aber Teil der Nuklearstrategie der USA. Lange gelang der Balanceakt. Doch Ukraine-Krieg und weniger Rüstungskontrolle ändern das.

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Ein heller Atompilz ist über dem Meer zu sehen
Noch immer ein Schreckensszenario: atomare Explosion, hier über dem OzeanBild: McPHOTO/M. Gann/picture alliance

Wäre der Kalte Krieg atomar ausgetragen worden, hätte das wahrscheinlich auf deutschem Boden begonnen. Geografisch lag Deutschland zwischen den Vereinigten Staatenund ihren NATO-Verbündeten auf der einen Seite und der Sowjetunion und den Ländern des Warschauer Pakts auf der anderen Seite. Politisch war das Land in West und Ost gespalten. Strategisch gesehen standen sich hier das amerikanische und das sowjetische Militär gegenüber - auf ihrer jeweiligen Seite des Eisernen Vorhangs.

Die Bundesrepublik (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) fungierten als eine Art nuklearer Puffer zwischen den verfeindeten Supermächten. Deutschland profitiert zwar auch heute noch von der vermeintlichen Sicherheit des US-amerikanischen atomaren Schirms, sieht sich aber auch der Gefahr einer unmittelbaren nuklearen Eskalation ausgesetzt.

Menschen halten Plakat in die Höhe, auf dem steht: Nur wer Massen morden will, besitzt Atomwaffen.
Ostermarsch 2022: In Büchel gibt es immer wieder Proteste gegen die Stationierung US-amerikanischer AtomwaffenBild: Thomas Frey/dpa/picture alliance

Im ehemaligen Westdeutschland hat sich eine starke Friedensbewegung entwickelt, viele ihrer Anhänger drängen im Zusammenhang mit dem Kriege in der Ukraine auf schnelle Verhandlungen mit Russland. Auch viele Menschen im ehemaligen Ostdeutschland nehmen eine weniger feindselige Haltung gegenüber Russland ein als Befürworter von Waffenlieferungen. Gleichzeitig gibt es in Ost wie West viele uneingeschränkte Unterstützer der Ukraine. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Frage der Rüstungskontrolle in Deutschland ein besonders sensibles Thema ist.

"Deutschland bleibt seinem Engagement in den Bereichen Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen klar verpflichtet, auch unter den veränderten Bedingungen", heißt es aus dem Auswärtigen Amt auf Nachfrage der DW - eine Anspielung auf die russische Invasion in der Ukraine, die - wie einige Militäranalysten befürchten - Russlands Präsident Wladimir Putin dazu veranlassen könnte, das "atomare Tabu" zu brechen, sollten seine konventionellen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld weiterhin Schwierigkeiten haben.

Menschen in grünen Jacken und mit Masken stehen an einem Hafen, vor ihnen ein Peace-Zeichen aus Kerzen geformt, die Menschen halten Schilder hoch mit der Aufschrift: Atomwaffen verbieten
Friedensbewegung: Mahnung zum 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs über HiroshimaBild: picture alliance/dpa

"Die Bundesregierung wendet sich gemeinsam mit ihren Partnern unmissverständlich gegen jede Aufweichung des Tabus", heißt es weiter aus dem Auswärtigen Amt. Das bezieht sich auf die ungeschriebene Übereinkunft, keine Atomwaffen einzusetzen. Sie entwickelte sich nach dem doppelten Atomschlag der USA gegen Japan und dem damit verbundenen Ende des Zweiten Weltkriegs 1945.

Nuklearer Balanceakt

Deutschlands ablehnende Haltung zu Atomwaffen steht im Widerspruch zu der Erwartung, dass das Land den sicherheitspolitischen Status quo unterstützt. Die nukleare Teilhabe der NATO - die langjährige Politik des von den USA geführten Militärbündnisses, die die Stationierung von US-Atomwaffen auf nicht-amerikanischem Territorium erlaubt - bedeutet, dass deutsche Kampfflugzeuge im Falle eines Atomkriegs Nuklearwaffen transportieren könnten.

Einer Schätzung der "Nuclear Threat Initiative" zufolge befinden sich auf dem Fliegerhorst Büchel in im Westen Deutschlands bis zu 20 solcher Sprengköpfe. Die in Washington D.C. ansässige Denkfabrik zählte etwa 130 weitere auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein, bis diese zwischen 2001 und 2005 entfernt wurden.

Der nukleare Balanceakt bringt Spannungen sowohl in die deutsche Innenpolitik als auch in das Euro-Atlantische Bündnis. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sind jedoch alle Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund getreten.

Einige Politiker der Grünen, die traditionell zu den schärfsten Kritikern von Atomwaffen in Deutschland gehören, zählen auch zu den lautstärksten Befürwortern der Ukraine in Deutschland. NATO-Vertreter nutzen unterdessen jede Gelegenheit, um zu zeigen, dass Russlands Bemühungen, das Bündnis zu spalten, gescheitert sind.

"Wir befinden uns eindeutig an einem Wendepunkt", sagt John Erath, Senior Policy Director des Center for Arms Control and Non-Proliferation, der DW. "Eines der Mittel, die Russland gewählt hat, um sein Ziel zu erreichen, ist die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen."

Nukleare Drohungen - früher und heute

Russland hat seine Ziele, die Ukraine zu kontrollieren und die Unterstützung der USA und NATO zu brechen - bisher nicht erreicht. Atomwaffen als "diplomatisches Instrument" zu nutzen, sagt Erath, habe aber dazu beigetragen, diese Unterstützung zu schmälern. Die USA haben darauf geachtet, eine Eskalation zu vermeiden, die sie in einen direkten Konflikt mit Russland hineinziehen könnte. Und deutsche Regierungsvertreter haben oft die Sorge geäußert, Deutschland könnte eine Grenze überschreiten, die das Land zu einer offiziellen Kriegspartei machen würde.

"Die wirkliche Gefahr besteht darin, dass dieser Konflikt damit endet, dass Russland als erfolgreich und dass dieses Instrument als wirksam wahrgenommen wird. Denn das öffnet die Schleusen", sagt Erath. Andere Nuklearstaaten wie etwa Nordkorea könnten zu noch gewagteren Drohungen greifen.

Eine solche "Nuklear-Diplomatie" gab es schon früher. In den 1980er Jahren veranlassten neuerliche Stationierungen sowjetischer Atomstreitkräfte die NATO zu einer entsprechenden Reaktion. Große Proteste, vor allem im damaligen Westdeutschland, setzten die Regierung unter Druck, sich der Stationierung weiterer US-Raketen im Land zu widersetzen.

Eine Schwarzweiß Aufnahme von protestierenden Menschen, im Vordergrund ein Ortsschild der Stadt Kastellaun, die Menschen tragen ein großes Banner mit der Aufschrift: Raus aus der Nato
Demonstration gegen geplante Raketenstationierungen im Hunsrück 1986 Bild: Frank Kleefeldt/picture alliance

Nach eigenen Angaben der NATO sei es eine "schwierige Zeit sowohl für Westdeutschland als auch für die NATO" gewesen. Das Bündnis hielt jedoch stand. Es wurde ein "doppelgleisiger" Kompromiss gefunden, der mehr Stationierungen, aber auch Verhandlungen mit der Sowjetunion über Rüstungskontrolle vorsah.

"Differenzen bei der nuklearen Gefahrenwahrnehmung unter NATO-Verbündeten können für Russland ein kritischer Punkt sein, den es ausnutzen könnte", sagt Jonas Schneider, von der Berliner Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Insgesamt positioniert sich Deutschland in Bezug auf nukleare Risiken vorsichtiger."

Atomwaffenkontrolle: 10 Prozent fehlen

Die Rüstungskontrolle in Form von Abkommen ist allerdings auf dem Tiefpunkt angelangt, seit Russland den "New START"-Vertrag, das letzte große Abkommen zur Begrenzung russischer und amerikanischer strategischer Waffen, ausgesetzt, aber nicht aufgekündigt hat. Zumindest auf kurze Sicht sind Sicherheitsexperten wie Schneider deshalb relativ zuversichtlich. "Alles in allem sehe ich keine Erhöhung des nuklearen Risikos als Folge dessen, was mit 'New START' passiert ist", sagt er.

Das liegt zum Teil daran, dass Verträge nur ein Element der Rüstungskontrolle sind. Transparenz, Dialog und Datenerfassung auf öffentlichen und geheimen Wegen sind weitere Elemente. Nuklearwaffen sind teuer und auffällig, so dass Veränderungen in der Anzahl oder im Einsatz relativ leicht zu erkennen sind.

Außerdem gelten die Verträge nur für die russischen und amerikanischen Streitkräfte. Diese kontrollieren etwa 90 Prozent der weltweiten Atomwaffen. Dass China nicht Teil dieser Verträge ist, gilt als ernstes Problem.

Man sieht eine Militärparade mit drei großen Fahrzeugen in Tarnfarben, die alle eine Rakete beladen haben
Neue Supermacht? Chinesische Dongfeng-41-Raketen - präsentiert bei einer MilitärparadeBild: Zhang Haofu/Xinhua/picture alliance

Es gibt mehrere kleine und mittelgroße Staaten mit Kernwaffen, aber Erath zufolge ist es China, "wo sich die Dinge in der nuklearen Welt ändern". Außerdem fehlten den USA das Verständnis und die Kommunikationswege, wie sie mit Russland über Jahrzehnte aufgebaut wurden.  "Sollte es zu einer Krise um Taiwan kommen, ist es etwas schwieriger, einen direkten Draht nach Peking zu bekommen", sagt Erath.

Die meisten Länder besitzen keine Atomwaffen, 92 von ihnen haben sogar zusätzlich den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet. Da jedoch keine der weltweiten Atommächte an Bord ist, hat das Abkommen weitgehend symbolischen Charakter.

Deutschland, das die Bewegung zur Abschaffung von Atomwaffen unterstützt, aber der US-amerikanischen Nukleardoktrin verpflichtet ist, versucht nun, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Im Jahr 2022 nahm Deutschland als Beobachter an einem Vertragstreffen in Wien teil - ein Zeichen dafür, dass anti-nukleare Bestrebungen mit realen nuklearen Verpflichtungen konkurrieren.

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert.