Angela Merkel: Ihr Buch, ihre Mission, ihre Memoiren
25. November 2024Kaum ein deutsches Politik-Buch zuvor hat so viel Aufsehen erregt. Die Erinnerungen von Angela Merkel unter dem Titel "Freiheit" kommen in dieser Woche (Ende November) in den Buchhandel. Sie werden zeitgleich in rund 30 Ländern veröffentlicht; nicht nur in westlichen Ländern, auch in China geht das Buch an den Start. Und Tickets für die erste Vorstellung des 736-Seiten-Werks am Dienstagabend (26.11.24) im "Deutschen Theater" in Berlin waren vor einigen Wochen im Netz binnen weniger Minuten ausverkauft.
Merkels "Erinnerungen 1954-2021" blickt zurück auf ihr Leben von der Kindheit und Jugend in der DDR, die Wiedervereinigung, den politischen Aufstieg in der Bundesrepublik bis zum Ende ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft im Spätherbst 2021. Gleichzeitig erscheint ein Hörbuch. Schließlich ist eine Tournee der 70-Jährigen durch europäische Großstädte geplant.
Buch-Präsentation mit Obama in Washington
In den bislang veröffentlichten Auszügen aus dem Buch (unter anderem in der Wochenzeitung "Die Zeit" und - zum Thema Israel - der "Jüdischen Allgemeinen") sowie mehreren Interviews geht Merkel auch auf politisch aktuelle und umstrittene Fragen ein. Das Erleben des US-Präsidenten Donald Trump (2017-2021) beispielsweise, die Männer-Dominanz in der deutschen Politik, die kontrovers diskutierte Aufnahme von Flüchtlingen, ausführlich über ihre Russland- und Ukraine-Politik, über ihre Sicht auf Russlands Präsident Wladimir Putin. Bei diesem Thema wird sie von vielen in Berlin mittlerweile kritisch gesehen.
Nun fallen Interview-Äußerungen der Altkanzlerin in Deutschland in den längst begonnenen Bundestags-Wahlkampf. Das Ende der Ampel-Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen, sagt der Journalist Ralph Bollmann der DW, möge aktuell den Blick auf das Buch überlagern. Bollmann hatte vor Jahren selbst eine große Biografie über die Kanzlerin vorgelegt.
Aber er verweist auch auf die internationale Rezeption und den im Januar anstehenden Wechsel im Amt des US-Präsidenten. Bollmann erinnert an die erste Amtszeit Trumps während der Merkel-Jahre. "Damals wurde sie in den USA regelrecht gefeiert als seine liberal-demokratische Gegenspielerin. Das wird ihr jetzt bei der Vermarktung sicher helfen." Am 2. Dezember ist Merkel in Washington und stellt mit dem ehemaligen Präsidenten Barack Obama ihr Buch vor.
Werben um ehemalige Merkel-Wähler
In Deutschland sieht es Bollmann als "Fehleinschätzung" des Berliner Betriebs, zu meinen, Merkel sei wegen ihrer Russland-Politik in Deutschland "jetzt überall unten durch". Sie habe nach wie vor "viele Fans im Lande", das Buch werde sich gut verkaufen. Problematischer als Merkels außenpolitische Entscheidungen sei für ihn die "innenpolitische Reform-Unlust". Er nennt als Beispiele ihre Scheu, schwierige Themen wie die Erneuerung der Bundeswehr oder eine echte Klimawende voranzutreiben. Wird nun das Buch damit Wahlkampf? Bollmann bleibt da zurückhaltend: "Jeder wird einfach das zitieren, was ihm ins Konzept passt." Auffallend sei aber, dass die drei Kanzlerkandidaten Olaf Scholz (SPD), Friedrich Merz (CDU/CSU) und Robert Habeck (Grüne) auf ihre Art versuchten, ehemalige Merkel-Wähler anzusprechen.
Aber die ehemalige Kanzlerin wird längst nicht nur positiv gesehen. Selten, sagt der Politikwissenschaftler und Publizist Andreas Püttmann der DW, sei "über einem Spitzenpolitiker so viel undifferenzierte Kritik, nachträgliche Besserwisserei und Hass ausgeschüttet worden wie über Angela Merkel". Gerade deshalb sei es so wichtig, "dass sie die Dinge aus ihrer Perspektive für eine breite Öffentlichkeit darstellt".
Spekulationen um Millionen-Honorar
Nicht bekannt ist, wie bei solchen Buch-Projekten üblich, mit welchem Honorar die Alt-Kanzlerin kalkulieren kann. Die Startauflage in Deutschland liegt laut dem Kölner Verlag Kiepenheuer&Witsch, bei dem das Buch erscheint, bei 400.000 Exemplaren. Der "Kölner Stadt-Anzeiger" spricht, ohne Angabe von Quellen, von einer "exorbitanten Vorschusssumme", einer "zweistelligen Millionensumme", die "außergewöhnlich viel Geld für den deutschen Buchmarkt" sei. Und der Berliner "Tagesspiegel" nannte konkret die Summe von zwölf Millionen Euro.
Im Interview mit dem "Spiegel", der sie an dieser Stelle als baldige "Multimillionärin" ansprach und auf die finanzstarke Stiftung des früheren US-Präsidenten Barack Obama hinwies, deutete sie auf Nachfrage an, dass sie eine Stiftung errichten werde. "So ein dickes Ding wie Obama werde ich nicht aufziehen können. Aber schauen wir mal." Die eigene Stiftung hätte für sie gewiss den Vorteil, weder jetzt noch irgendwann bei ihrem Nachruhm auf den CDU-Parteiapparat und dessen Stiftungsengagement angewiesen zu sein.
DDR-Erinnerung
Unter den Hunderten von Autorinnen und Autoren, die der traditionell eher linksliberale Verlag Kiepenheuer&Witsch auf seiner Homepage auflistet, finden sich Kölner Originale, viele Theatergrößen und weitere Kulturmenschen, aber lediglich vier Gestalten von bundespolitischer Relevanz: der frühere SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918-2015) sowie die Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit (79), Joschka Fischer (76), schließlich der ebenfalls grüne amtierende Wirtschaftsminister Robert Habeck (55). Manchmal mag auch die Entscheidung für einen Verlag etwas von einem Bekenntnis haben.
Und auch die Wahl eines Veranstaltungsortes. Das "Deutsche Theater" passt für eine Merkel-Präsentation. Zu DDR-Zeiten wohnte Merkel nur Gehminuten entfernt in der Marienstraße nahe der damaligen Mauer, die Ost und West trennte. Das "DT" ist die wohl wichtigste anspruchsvolle Bühne der Stadt. Merkel und ihr Mann Joachim Sauer sind immer mal wieder zu Gast. Zu den Passagen, die "Die Zeit" vorab aus dem Buch zitierte, gehört auch eine Kindheitserinnerung: Als Kind und Heranwachsende, so schildert es Merkel, sei sie mit ihren Eltern "einmal im Jahr" ins Theater nach Berlin gefahren, auch ins DT. Diese Besuche würden ihr "immer in Erinnerung bleiben".
Und jetzt ist sie für einen Abend genau dort der Bühnen-Star. Zum Ensemble gehörte einst auch Corinna Harfouch, eine der angesehensten zeitgenössischen deutschen Schauspielerinnen. Harfouch, 70 Jahre alt wie Angela Merkel und im thüringischen Suhl geboren, hat "Freiheit" als Hörbuch eingelesen.