1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Alte Mitarbeiter, neue Technik

Matilda Jordanova-Duda
4. Oktober 2019

Familienunternehmen kennen kaum Fluktuation, viele Mitarbeiter sind seit Jahrzehnten in derselben Firma. Digitalisierung soll helfen, ihr Wissen zu retten, bevor sie in den Ruhestand gehen.

https://p.dw.com/p/3Qid5
Deutschland AR in der Wirtschaft | Weidmüller
Bild: Peter Wirtz

Kai-Uwe hat es einfach drauf. Er erkennt schon am Geräusch, ob eine Maschine ein Wehwehchen hat, und weiß es zu beheben. Er kennt den Spritzgussprozess aus dem Effeff und die Eigenarten jeder Anlage. Einfach unersetzlich, dieser Kai-Uwe, der hier für den Idealtyp der erfahrenen Fachkraft steht.

"Aber wenn er im Urlaub ist, krank oder in einer anderen Schicht, dann haben wir ein Problem", sagt Patrick-Benjamin Bök. Er ist beim Produzenten von Übertragungstechnik Weidmüller in Detmold zuständig für die Digitalisierung der Produktion. Erst recht werde es ein Problem geben, wenn Kai-Uwe in ein paar Jahren in Rente geht. "Der demografische Wandel ist für uns ein sehr relevantes Thema und hat einen großen Einfluss auf das Risikomanagement. Dieses Wissen, das durch lange Betriebszugehörigkeit entsteht, müssen wir in die Kiste packen", sagt Bök.

Bei Weidmüller packt man es zurzeit in eine Datenbrille. Dafür wurden zahlreiche Dokumente ausgewertet und die Mitarbeiter befragt. Azubis setzen die Infos in Storyboards optisch in Szene. Die AR-Brille zeigt einem die Maschine zusätzlich virtuell in 3D und blendet die entsprechenden Arbeitsschritte als Video ein. AR steht für Augmented Reality, erweiterte Realität. Rund 50 solcher Helferlein sind im Umlauf: für Trainings und vor allem für Fernwartung und Instandhaltung.

Deutschland AR in der Wirtschaft | Weidmüller
Die Brille für den Menschen an der Maschine: Daniel Behnke hat sie bei Weidmüller mit- und weiterentwickelt.Bild: Peter Wirtz

Aus der Ferne Maschinen warten und Arbeitsplätze besuchen

Das Unternehmen mit knapp 5000 Mitarbeitern weltweit hat Fertigungsstandorte unter anderem in China, Rumänien, Australien, Spanien oder Dubai. Wenn es dort früher irgendwo haperte, schickte man den Experten am Stammsitz ein Foto oder Video, die Mails gingen tagelang hin und her.

Heute setzt sich ein Werksmitarbeiter im fernen China die Brille auf, und der Kollege in Detmold sieht dank eingebauter Kamera die Maschine aus dessen Perspektive. Beide können dabei in Echtzeit miteinander reden. "So lässt sich die Situation deutlich leichter und schneller klären", sagt Bök.

Außerdem lassen sich mit der Brille Arbeitsplätze besichtigen, um aus der Ferne die Sicherheit zu beurteilen, Abläufe zu optimieren oder einfach nur, um Kunden das Werk zu zeigen. Das hat den Austausch zwischen den Standorten belebt - ohne strapaziöse und kostspielige Dienstreisen. "Wenn wir zwei Reisen pro Werk und Jahr dadurch sparen, hat sich die Technik schon ausgezahlt."

Eine Frage der Identität

Aber was hat Kai-Uwe davon, dass sein Knowhow nun in der Brille steckt? "Die Leute bei uns haben ein hohes Interesse an neuen Technologien", sagt Bök. "Gerade die Kollegen in der Fertigung empfinden es als Wertschätzung, vorne mit dabei sein zu dürfen."

Als Pionieranwender haben die Detmolder Microsofts Mixed-Reality-Brille HoloLens für den industriellen Einsatz weiterentwickelt. Seine Kollegen hätten ihm die Brille geradezu aus den Händen gerissen, staunt Bök, sie war begehrter als je ein digitales Hilfsmittel zuvor.

Für die Mitarbeiter besonders vorteilhaft: Sie haben beide Hände frei für die Arbeit. Und weil mit der Brille auch die Fernwartung von Maschinen möglich ist, müssen sie nicht wegen eines Betriebsnotfalls am anderen Ende der Welt plötzlich verreisen.

Andererseits sei es für die Kai-Uwes im Unternehmen eine Frage der Identität, gefragt zu werden. "Ihnen müssen wir die Sorge nehmen, dass sie unwichtig werden könnten, wenn sie ihr Wissen teilen", so Bök und wirbt: "Ihr gewinnt Zeit, um Neues zu lernen."

Lernen wollten bei Weidmüller auch Ältere. "Gerade sie kommen mit ganz neuen Ideen, wie man die AR-Brille nutzen kann. Auf die käme meine Generation gar nicht", so der junge Informatiker. Etwa, dass es cool wäre, umblättern zu können. Nur, dass es hier mit dem Blick geht.

Wie machen es die Kollegen?

Auch bei Jansen Lacke in Ahrweiler wird ein "erklecklicher Anteil" der rund 80 Mitarbeiter in wenigen Jahren in den Ruhestand wechseln. "Als Familienunternehmen mit 140 Jahre Geschichte sind Generationenwechsel für uns geübte Praxis", sagt der Firmenchef Peter Jansen.

Früher hätten die Altvorderen beim Lackhersteller die Neuen angelernt, und das war es. "Das machen wir immer noch, wir haben zehn Prozent Azubis", so Jansen. "Aber die Wissensbasis wächst und die EDV schafft neue Möglichkeiten."

Deshalb ist sein Unternehmen seit einigen Jahren dabei, die Prozesse in Produktion und Verwaltung umzustellen. Ein abteilungsübergreifendes Team beobachtet, was die Kollegen machen und redet mit ihnen, um das wertvolle Wissen zu sichern.

Deutschland AR in der Wirtschaft | Jansen Lacke
Ein Mischgerät von Jansen Lacke, das - digital gesteuert - aus 16 Grundtönen Tausende Farbennuancen mischen kann.Bild: Peter Wirtz

Rund 1500 Rezepturen für Lacke, Lasuren, Spachtelmassen und Straßenmarkierungen müssen so ins System eingespeist werden, dass die einzelnen Arbeitsschritte leicht vorzubereiten und auszuführen sind. Das ist ziemlich komplex. Es geht dabei um Vorgaben wie Geschwindigkeit, Temperatur und Reihenfolge der Komponenten, auch um Kapazitäten bei Maschinen, Behältern und Personal. Man muss festgelegt werden, was bei Störungen zu tun ist, wie Prüfroutinen ein- und Rüstzeiten möglichst kurz gehalten werden können.

Prozesse werden nachvollziehbar

"Unsere Mitarbeiter haben ein Interesse daran, dass das Unternehmen bestens dasteht. Die Bequemlichkeit spielt allerdings eine Rolle", sagt Firmenchef Jansen. Beispiel: Der eine mische einen bestimmten Farbton aufgrund seiner Erfahrung so, der andere geringfügig anders - so wie jeder Koch seine eigene Vorgehensweise habe.

"Wir haben sehr hohe Fertigungsstandards und kaum Ausschuss. Aber das haben unsere Leute alles im Kopf". Es sei auch im Sinne des Qualitätsmanagements, den Prozess nachvollziehbar zu gestalten. "Es gibt klare Vorgaben, wir können aber auch den Grad bestimmen, innerhalb dessen der Mitarbeiter frei entscheiden darf", so Jansen.

Und man käme schneller ans Ziel: "Wenn man jedes Mal noch ein bisschen Schwarz in den Lack geben muss, um ihn dunkler zu machen, sollte man vielleicht gleich die Grundrezeptur anpassen", so der Chef. Das digitale Dokumentieren der Arbeitsprozesse verschaffe die Möglichkeit, sie systematisch zu korrigieren und gleichzeitig Knowhow weiterzugeben.

Aber die Weitergabe stehe gar nicht so sehr im Vordergrund: "Es ist eine Frage des Qualitätsdenkens", sagt Jansen. Anders gesagt: Der Malermeister soll sein Lieblingsgelb auch dann noch kaufen können, wenn einige Mitarbeiter von Jansen Lacke in Rente gehen.